Faktencheck

Netflix-Serie «Unorthodox»: Wann wird Religion gefährlich?

08.05.2020, 12:14 Uhr
· Online seit 07.05.2020, 18:26 Uhr
Eine arrangierte Ehe, abrasierte Haare und Männer mit lustigen Pelz-Hüten: Die Netflix-Serie «Unorthodox» erzählt die bewegende Geschichte der Aussteigerin Esty. Die junge Jüdin flieht aus der ultraorthodoxen Satmarer-Gemeinde und fängt ein neues Leben an. Leben Juden heute wirklich so, wie es die Serie beschreibt? Der St.Galler Rabbiner klärt auf.
Ines Schaberger und Fabienne Engbers

Rabbiner Tovia Ben Chorin, die Netflix-Serie “Unorthodox” zeigt uns das Leben in der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde der Satmarer in New York. Gibt es solche auch in der Schweiz?

Die meisten der 18'000 Juden in der Schweiz sind liberal oder orthodox. Aber es gibt eine ultra-orthodoxe Gruppe in Zürich, die ganz unter sich leben. Sie halten Kontakte mit Gruppen aus New York, Jerusalem oder anderen Orten auf der Welt. In der jüdischen Gesellschaft der Schweiz sind sie allerdings sind nicht integriert. Unter sich sprechen die ultraorthodoxen Juden Schweizerdeutsch, Jiddisch oder Hebräisch.

Sie selbst bezeichnen sich als sehr liberaler Jude. Wie unterscheiden sich liberale von orthodoxen Juden?

Einen liberalen Juden erkennt man auf der Strasse nicht, weil er ganz normal angezogen ist. Einen orthodoxen Juden hingegen erkennt man sofort, unter anderem am Hut. Die ultraorthodoxen erkennt man an den Locken (den Schäfenlocken, die man auch in der Serie «Unorthodox» sieht).

Die Netflix-Serie, die auf einer wahren Begebenheit basiert, zeigt unter anderem, wie die Sexualität von Frauen unterdrückt wird. Ist das ein Problem der ultraorthodoxen Juden?

Auch, aber es gibt solche Frauen nicht nur im Judentum, sondern auch im Islam und in fundamentalistischen christlichen Gruppen. Die drei monotheistischen Religionen (also Religionen, die nur einem Gott huldigen. Das sind Christentum, Judentum, Islam) wurden von Männern «entwickelt», welche die Einstellungen ihrer Zeit gegenüber Frauen auf Frauen projiziert haben. Viele Frauen befreien sich daraus in den verschiedenen Ländern, das finde ich bewundernswert.

In der Serie «Unorthodox» sieht man eine Frau, die aus einer Gemeinschaft ausbricht, welche ihr Regeln diktiert. Der Ausstieg aus einer solchen Gruppe scheint wahnsinnig schwierig und braucht viel Mut.

Aus so einer radikalen Gruppe rauszukommen, ist wie wenn ein Vogel sein Nest verlassen muss: Plötzlich ist man ganz alleine in der grossen Welt. In den ultraorthodoxen Gemeinschaften ist man nie alleine, wenn man krank ist, wird man sofort besucht – das enge Zusammenleben kann auch Sicherheit geben. Es ist ein grosser Schritt und sehr mutig, darüber zu sprechen.

Im Podcast «Gott und d'Welt» kommt auch Deborah Feldman zu Wort, auf deren Geschichte und autobiografischem Buch die Netflix-Serie «Unorthodox» basiert. Zum Podcast gelangst du hier.

veröffentlicht: 7. Mai 2020 18:26
aktualisiert: 8. Mai 2020 12:14
Quelle: FM1Today