Spitalseelsorger

«Patienten und Angehörige leiden unter dem Besuchsverbot»

· Online seit 19.11.2020, 09:52 Uhr
Am Kantonsspital St.Gallen gilt seit einigen Wochen aufgrund des Coronavirus ein Besuchsverbot. Darunter leiden Patienten und Angehörige stark, sagt Spitalseelsorger Sepp Koller. Er selbst ist überrascht über die schweren Verläufe, die Corona-Patienten teilweise durchmachen.
Ines Schaberger/Lara Abderhalden

«Ich hatte am Wochenende mehrere Patienten betreut, die geweint haben. Sie sind sehr traurig, dass sie keinen Besuch empfangen dürfen.» Sepp Koller ist seit vier Jahren Spitalseelsorger am Kantonsspital St.Gallen und hat unter anderem direkten Kontakt mit Corona-Patienten oder denjenigen, die unter der Corona-Pandemie aufgrund des Besuchsverbots am Kantonsspital sehr leiden. In der aktuellen Folge des Gott und d'Welt-Podcasts spricht er über seine Erfahrungen.

«Unter den erwähnten Patienten war eine Grossmutter, die bereits seit einem Monat bei uns ist und ihre Enkel vermisst. Sie kennt die neuen Dinge wie Skype noch nicht.» Vor kurzem habe er auch eine 18-Jährige betreut, die nach einem schweren Unfall im Spital war. «Auch sie konnte ihre Eltern nicht sehen, was sehr belastend für sie war.»

Seelsorger ersetzt Spitalbesucher

Sepp Koller merkt, dass gerade jetzt, während des Besuchsverbots, die Patienten froh sind, kommt wenigstens er vorbei. «Ich bin dann stellvertretend für die Besucher bei ihnen. Sie sprechen mit mir nicht nur über ihre Diagnose, sondern auch darüber, was sie traurig macht oder ihnen Hoffnung gibt.» Zugenommen hätten die Gespräche mit Patienten nicht, aber sie seien anders. «Es sind viel mehr Anfragen von Angehörigen dabei, die sich wünschen, dass ich ein Familienmitglied besuche», sagt der 51-Jährige. Neben Anfragen von Angehörigen erhält Sepp Koller auch vom Pflegepersonal Hinweise auf Patienten, die einen Seelsorger brauchen könnten.

Sehr belastend für den Seelsorger in Bezug auf Corona-Patienten sind die schweren Verläufe der Krankheit. «Auch jüngere Menschen können schwere Verläufe haben und das hat mich selbst sehr betroffen gemacht. Es wurde mir durch die Arbeit noch bewusster, wie gefährlich das Virus ist.» Patienten, die mit ihm das Gespräch suchen, hätten oft Angst vor schweren Verläufen oder davor, an der Krankheit zu sterben. «Sie wissen auch nicht, ob es Symptome gibt, die für immer bleiben. Ausserdem fehlt ihnen durch die Isolation der menschliche Kontakt.»

«Mit einer Frau kommunizierte ich über Handzeichen»

In solchen Situationen versucht der vierfache Vater aus Gossau die Themen anzusprechen, die den Patienten Angst machen. «Ich versuche herauszufinden, was ihnen früher geholfen hat, welche Erinnerungen an Erlebnisse oder Personen ihnen guttun und wie ich sie unterstützen kann.»

Schwieriger sei es mit Patienten, die aufgrund einer Beatmung durch einen Beatmungsschlauch nicht sprechen können. «Ich betreue gerade eine Frau, die gleich alt ist wie ich (51 Jahre) und vorher gesund war. Sie befand sich im Wachkoma und ist mittlerweile aufgewacht, aber kann noch nicht sprechen. Sie kommuniziert mit Handzeichen – zum Beispiel mit einem Daumen hoch. Dort versuche ich, durch geschlossene Fragen einen Austausch zu erhalten.»

«Ich zünde jeden Abend eine Kerze an»

Jede solche Situation berührt Sepp Koller. Er selbst sucht Halt bei der Familie oder im Glauben und hat ein Ritual: «Jeden Abend, wenn ich das Spital verlasse, zünde ich eine Kerze an und denke an alle Menschen, die mir an diesem Tag begegnet sind.»

Belastend sei die Situation auch für das Pflegepersonal, das spürt Sepp Koller deutlich. «Viele haben Angst davor, dass sie Arbeitsbelastung nochmals zunimmt oder sie aus der Quarantäne geholt werden, um zu arbeiten.

Wie ein Pflegefachmann auf der medizinischen Intensivstation am Kantonsspital die aktuelle Corona-Pandemie wahr nimmt, hört ihr im aktuellen Gott und d'Welt Podcast.

veröffentlicht: 19. November 2020 09:52
aktualisiert: 19. November 2020 09:52
Quelle: FM1Today