Kindheit im Heim

«Wir wurden geschlagen und eingesperrt»

· Online seit 10.12.2020, 11:35 Uhr
Der 67-jährige St.Galler Werner Fürer verbrachte seine Kindheit in strengen Erziehungsheimen, fremdplatziert gegen seinen Willen. Heute spricht er offen über das dunkle Kapitel Schweizer Geschichte und möchte anderen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Mut machen.
Ines Schaberger/Lara Abderhalden

«Für mich war es ein riesiger Schock. Plötzlich war ich draussen aus der Familie. Ich fragte mich, was ich gemacht hatte, dass ich jetzt ins Heim muss.» Der heute 67-jährige St.Galler Werner Fürer erinnert sich noch gut daran, wie er als Fünfjähriger in ein Heim gegeben wurde. Obwohl sein von der Mutter geschiedener Vater den Buben aufnehmen und aufziehen wollte, hatten sich die Mutter und das Fürsorgeamt für eine Unterbringung im Wohnheim Riederenholz in St.Gallen entschieden.

Über die Zeit in diesem Wohnheim und später im Thurhof in Oberbüren erzählt Werner Fürer in der aktuellen Folge des Gott und d'Welt Podcast. «Ich spreche vor allem aus einem Grund so offen über das Thema: Ich möchte, dass diese dunkle Seite der Schweiz niemals in Vergessenheit gerät.»

«Wir wurden geschlagen und eingesperrt»

Genauso wie Werner Fürer erging es Tausenden von anderen Kindern. Sie wurden durch die Behörden den Eltern entrissen, verbrachten Jahre in Kinderheimen, wo sie psychisch und physisch misshandelt wurden, Gewalt erfuhren und teilweise Medikamententests unterzogen wurden. Werner Fürer hatte in diesem Sinne, wie er sagt, Glück und musste keinen sexuellen Missbrauch oder Medikamententests erleben. Gewalt gehörte aber auch bei ihm zum Alltag.

«Wir wurden geschlagen und eingesperrt», sagt er. Auch an spirituellen Missbrauch erinnert er sich. «Wenn ein Bub aus dem Thurhof floh, mussten wir die kurzen Hosen anziehen, auf einen rauen Teppich knien und 20 Mal das ‹Vater unser› aufsagen und dafür beten, dass der Bub zurück kommt.» Kehrte dieser dann tatsächlich zurück, seien ihm die Haare kurz geschoren worden, er wurde eingesperrt und geschlagen.

«Es wurde über die Kinder willkürlich bestimmt», sagt Werner Fürer. «Diese Kollektivstrafen waren für mich das Schlimmste.» Durch diese Erfahrungen in den von Nonnen und Priestern geführten Heimen ist Werner Fürer heute sehr skeptisch gegenüber der katholischen Kirche. Auch darüber spricht der 67-Jährige im Podcast und inwiefern die Erziehungsformen sein weiteres Leben prägten.

«Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht mehr fremdbestimmt»

An einen Moment erinnert sich der ehemalige Verkäufer noch sehr gut – den Tag der Abreise: «Nach der zweiten Oberstufe hatte ich genug von Heimaufenthalten und der Schule. Mein Vater holte meine Sachen ab und ich ging mit dem Fahrrad von Oberbüren nach Goldach. Auf der Höhe Niederbüren hatte ich ein richtiges Hochgefühl. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht mehr fremdbestimmt. Ich musste niemandem mehr Rechenschaft ablegen. Ich konnte einfach gehen.» Und das tat Werner Fürer, er stieg in die Arbeitswelt ein und gründete eine Familie.

Bei Werner Fürer dauerte es Jahre, bis er bereit war, darüber zu sprechen. Für die Zukunft wünscht er sich, dass so etwas niemals wieder passiert und dass sich viele Betroffenen den ihnen zustehenden Solidaritätsbeitrag abholen.

veröffentlicht: 10. Dezember 2020 11:35
aktualisiert: 10. Dezember 2020 11:35
Quelle: FM1Today