Die Leichtathletik lechzt nach dem Rücktritt von Usain Bolt nach einem neuen Superstar. Coleman besitzt, was die Leistungen betrifft, auf jeden Fall das Potenzial dafür, umso mehr, als er erst 23 Jahre alt ist. «Ich bin mit einem unglaublichen Talent gesegnet», sagt er von sich selber und fügte an: «Es gibt definitiv noch einige Dinge, die ich verbessern kann.»
Zudem unterstrich der Auftritt am Samstagabend - mit der persönlichen Bestzeit von 9,76 Sekunden distanzierte er den zweitplatzierten Justin Gatlin um 13 Hundertstel -, wie gut er mit Druck umgehen kann. Dieser sei gross gewesen, so Coleman, der von seinem Vater früh gefördert wurde, jedoch lieber professioneller Footballer in der NFL geworden wäre. Auf den Vorlauf über 200 m am Sonntagabend verzichtete er.
Die Leistungen sind aber nur die eine Seite. Bolt verstand es mit seiner lockeren Art wie kaum ein anderer, die Leute in seinen Bann zu ziehen. Bezüglich Charisma kann der Amerikaner mit dem Jamaikaner bei weitem nicht mithalten. Coleman glaubt selber nicht, dass irgendjemand in der Lage sei, das Gleiche für den Sport zu tun wie Bolt. «Ich möchte die beste Version von Christian Coleman sein und mein eigenes Vermächtnis hinterlassen», stellte er klar.
Das mit dem Vermächtnis ist aber so eine Sache. Denn das Image von Coleman hat bereits einige Kratzer. Er konnte den Titel in Doha nur deshalb holen, weil dessen Anwalt in den Reglementen ein Schlupfloch fand. Die amerikanische Anti-Doping-Behörde (USADA) hatte Untersuchungen wegen dreier verpasster Dopingkontrollen innerhalb eines Jahres eingeleitet. Das hätte eine zwölfmonatige Sperre zur Folge gehabt. Das erste Vergehen am 6. Juni 2018 konnte jedoch auf den 1. April zurückdatiert werden, sodass nur noch zwei der drei verpassten Tests innerhalb eines Jahres lagen.
«Ich habe nichts falsch gemacht», sagte Coleman. «Ich bin bloss ein junger dunkelhäutiger Mann, der seinen Traum lebt. Es ist enttäuschend, dass versucht wird, meinen Ruf zu beschmutzen». Er gab aber zu, dass er sorgfältiger bei der Aktualisierung im System der USADA sein könne. Gemäss des Reglements muss jeder Sportler jeweils vierteljährlich für jeden Tag des kommenden Quartals eine Stunde angeben, während der er an einem bestimmten Ort auffindbar ist.
Zu den grössten Kritikern von Coleman gehört der vierfache Olympiasieger Michael Johnson, der ihm aufgrund der Vorkommnisse abspricht, ein Gesicht der Leichtathletik zu sein. «Michael Johnson zahlt meine Rechnungen nicht und unterschreibt meine Schecks nicht, sodass es mir egal ist, was er zu sagen hat», entgegnete Coleman. Er erachtet es als entscheidend, «gute Leistungen zu erbringen und den Sport auf die richtige Weise zu vertreten.» Die unangenehme Affäre hat er abgehakt. «Das liegt hinter mir. Ich bin jetzt Weltmeister, und das ist etwas, das mir keiner mehr nehmen kann.» Dennoch bleibt ein Makel, den Coleman wohl nie mehr los wird.