Spitzguuge

Dem FC St.Gallen mangelt es an Arroganz

29.06.2020, 09:02 Uhr
· Online seit 29.06.2020, 06:23 Uhr
3:2 gegen Thun – ein Zittersieg gegen das Schlusslicht oder doch eher eine starke Reaktion gegen eines der formstärksten Rückrundenteams? Weder noch, findet Sportjournalist Dominic Ledergerber: «Der FC St.Gallen muss mental reifen, um an YB dranzubleiben.»
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Im Kybunpark hatten die Nörgler gestern Abend nach dem Schlusspfiff wieder einmal Hochkonjunktur: Wie konnte das noch spannend werden? Warum haben die Espen nicht wie in der ersten Halbzeit weitergespielt? Warum muss man als FCSG-Fan eigentlich immer bis ganz am Ende zittern? Aussagen, die wohl manchem Zuschauer durch den Kopf gingen und in denen auch eine gewisse Arroganz mitschwingt. St.Gallen ist Spitzenclub, Ex-aequo-Leader, Meisterkandidat – diesen Ruf hat er sich bei nicht wenigen Anhängern erarbeitet.

Und auch wenn Kritik nach dem 3:2-Heimsieg gegen Thun deplatziert ist, es ist eine Arroganz, von der eine Portion mehr der Mannschaft von Peter Zeidler gut stehen würde. Noch fehlt der jungen Truppe, die in dieser Saison den mit Abstand attraktivsten Fussball spielt, die letzte Überzeugung, der letzte Glaube an sich selber. Dies zeigte sich ansatzweise im Spiel gegen die Berner Oberländer und ganz besonders bei der 0:4-Pleite unter der Woche gegen Zürich.

Identische erste Halbzeiten

In den ersten Halbzeiten der genannten Partien traten die Ostschweizer fast identisch auf: Druckvoll, dominant, haushoch überlegen. Zur Pause lautete das Schussverhältnis gegen Thun 13:3 und gegen Zürich 12:4. Der grosse Unterschied war jedoch das Resultat: War die Partie gestern beim Pausenstand von 3:0 schon fast vorentschieden, lagen die Espen gegen Zürich hinten (0:1).

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Partien war die St.Galler Reaktion auf ein Gegentor: Gegen Zürich ging nach dem 0:2 durch Tosin nichts mehr, gegen Thun war nach Munsys 1:3 plötzlich Verunsicherung da.

Die beiden Gesichter, die St.Gallen innerhalb 90 Minuten zu zeigen imstande ist, könnten unterschiedlicher nicht sein. Einerseits das selbstbewusste Gesicht, das den Glauben vermittelt, diese Mannschaft könne Berge versetzen, und andererseits das ängstliche, das ausdrückt, dass wer hoch fliegt, auch tief fallen muss.

Dabei ist diese Angst unbegründet. Zu oft schon haben die Spieler von Peter Zeidler bewiesen, dass sie sich in der Raiffeisen Super League vor keinem Gegner fürchten müssen und jeden von ihnen dominieren können.

Stürmen wie Muhammad Ali

Arroganz wird landläufig als Charakterschwäche ausgelegt, doch hat sie im Spitzensport gerade bei den Champions prägenden Charakter. Muhammad Ali war nicht nur einer der besten Boxer, die die Welt je gesehen hat, er war auch hochgradig arrogant, nannte sich «The Champion» und formulierte Reime auf seine Gegner, bevor er sie im Ring demütigte (unvergessen ist das Zitat: «Archie Moore will be on the floor in round four» – «Archie Moore wird in der vierten Runde am Boden liegen», was auch eintraf).

Sollten die St.Galler also auch grosse Töne spucken? Man stelle sich vor, Captain Silvan Hefti stünde vor dem nächsten Spiel am Mittwoch in Neuenburg vor die Medien und sagte prahlerisch: «Ide Maladière isch de Tank vo Xamax scho i de Pause leer.» Er müsste wohl einen regelrechten Shitstorm über sich ergehen lassen, ja womöglich seine Captainbinde abgeben, und letztendlich nach Entschuldigungen ringend zu Kreuze kriechen.

Die Arroganz von Boxer Ali muss aber auf dem Platz spürbar sein, zu jeder Zeit, auch nach einem Gegentor. Um an YB dranzubleiben, muss der FC St.Gallen mental reifen.

Der Fahrplan stimmt

Doch obschon sich die Espen gestern Nachmittag ob der plötzlich aufkeimenden Thuner Gegenwehr ein bisschen ins Bockshorn jagen liessen, überwogen die positiven Aspekte deutlich. So glückte etwa die Reaktion auf die höchste Saisonniederlage nur drei Tage vorher, zeigte Tim Staubli ein bärenstarkes Startelf-Debüt in der Super League oder blieben die Gäste aus Thun diesmal von rassistischen Anfeindungen durch das St.Galler Publikum verschont.

Matthias Hüppis Reaktion auf den unentschuldbaren Vorfall im FCZ-Spiel war absolut vorbildlich. Auch in der Niederlage zeigte der Präsident Rassismus die Rote Karte, indem er versprach, den Übeltäter «zu finden und lebenslang aus dem Stadion» zu verbannen.

Trotz des Ausrutschers am Donnerstag kann man also festhalten: Auf wie neben dem Platz stimmt der Fahrplan des FC St.Gallen. Und wenn die Spieler nun noch die Arroganz aufbringen, sich selber als ernsthaften Meisterkandidaten anzuerkennen, kann das grün-weisse Sommermärchen tatsächlich wahrwerden.

veröffentlicht: 29. Juni 2020 06:23
aktualisiert: 29. Juni 2020 09:02
Quelle: FM1Today

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