Wie der FC St.Gallen Vizemeister wurde
Er begann so gut, dieser Freitagabend, der endlich darüber Aufschluss geben sollte, ob heute Montag eine Finalissima steigen sollte oder nicht. Der FC St.Gallen legte gegen Xamax los wie die Feuerwehr, führte nach einer Itten-Doublette schon mit 2:0, als aus dem Tourbillon die Kunde herbeieilte, dass die Young Boys in der 14. Minute ebenfalls in Führung gegangen waren.
Ab da war klar: Bäumt sich der FC Sion nicht noch einmal auf, wird YB den Sack am zweitletzten Spieltag zumachen, was auch eintraf. Der dritte 1:0-Sieg in Folge war für die Berner gleichbedeutend mit dem dritten Meistertitel hintereinander.
Aus Ostschweizer Sicht könnte man also zum Schluss kommen, dass die 6:0-Gala der Espen gegen den Absteiger aus Neuenburg umsonst war. Doch diese Analyse greift zu kurz. Sie berücksichtigt weder den Umstand, dass sich St.Gallen dank dieses Kantersieges vorzeitig Platz zwei sicherte, noch lässt sie Platz für die Frage, wo diese Mannschaft herkam.
Eine Analyse dieser aussergewöhnlichen Saison soll über die Enttäuschung der verpassten Chance, am letzten Spieltag doch noch Meister werden zu können, hinwegtrösten.
Ein Low-Budget-Meisterkandidat
Denn zu Beginn dieser Saison war der FC St.Gallen vieles, nur kein Meisterkandidat. Nach einem schwachen Saisonstart mit nur einem Sieg aus den ersten fünf Spielen standen die Kritiker des St.Galler Weges schon in den Startlöchern, spätestens aber Mitte September, nach dem Cup-Aus gegen Winterthur (0:2), glaubten sie zu wissen, dass dieser Weg in eine Sackgasse führen würde.
Mit ihrer ultrajungen Mannschaft und einem Budget von nicht einmal acht Millionen Franken waren die Espen, so die Betrachtung vieler, schon früh in dieser Saison ins Schlingern geraten – dabei war die Mannschaft von Peter Zeidler erst noch daran, sich zu finden. Milan Vilotic, Moreno Costanzo oder Jonathan Klinsmann standen an diesem 13. September in Winterthur bis heute zum letzten Mal in der Startelf und Vincent Rüfli, der gegen den Challenge-League-Klub ebenfalls von Beginn weg aufgelaufen war, spielte in den Überlegungen seines Trainers erst im gedrängten Spielplan nach Wiederaufnahme der Meisterschaft wieder eine Rolle.
«Low Budget» war der FC St.Gallen schon damals, doch zum Meisterkandidaten wurde er erst nach dem Ausscheiden im Schweizer Cup, als er von den restlichen zwölf Partien bis zur Winterpause deren neun gewinnen konnte – und das mit einer Attraktivität und Dominanz, die gemessen an der nationalen Konkurrenz beispiellos war.
Nur vier der 14 Stammspieler kosteten Geld
Die Fussballschweiz hatte sich sehr schnell an Namen wie Muheim, Stergiou oder Quintilla gewöhnen müssen und je länger die Meisterschaft dauerte auch an das Szenario, dass der Meister erstmals seit 20 Jahren nicht aus Basel, Bern oder Zürich kommen könnte.
Dabei verfügten die Espen nicht nur über die deutlich jüngste Mannschaft der Liga, sie hatten zudem nur für vier der 14 Spieler, die zu Zeidlers Stamm gehörten, eine Ablösesumme bezahlt (vgl. Grafik).
So teuer waren die Low-Budget-Stammspieler des FC St.Gallen
Spieler
Ablöse
Abgebender Club
Lukas Görtler
484'000 Franken
FC Utrecht
Cedric Itten
463'000 Franken
FC Basel
Lawrence Ati Zigi
ca. 100'000 Franken*
FC Sochaux
Miro Muheim
ca. 50'000 Franken*
Chelsea U23
Dejan Stojanovic
ablösefrei
FC Bologna
Yannis Letard
ablösefrei
VfR Aalen
Jérémy Guillemenot
ablösefrei
Rapid Wien
JOrdi Quintillà
ablösefrei
Puerto Rico FC
Víctor Ruiz
ablösefrein
SD Formentera
Ermedin Demirovic
ablösefrei
ausgeliehen von Deportivo Alavés
Silvan Hefti
ablösefrei
eigener Nachwuchs
Betim Fazliji
ablösefrei
eigener Nachwuchs
Leonidas Stergiou
ablösefrei
eigener Nachwuchs
Boris Babic
ablösefrei
eigener Nachwuchs
Quelle: transfermarkt.ch
Alles in allem investierte der FC St.Gallen nur rund eine Million Franken in eine Mannschaft, die den FC Basel deutlich hinter sich und stets auch YB ihren Atem im Nacken spüren liess. Wie gross der Respekt der Berner vor den Espen mittlerweile war, zeigt eine Aussage von Topskorer Jean-Pierre Nsamé (30 Tore), der vor dem zweitletzten Spieltag gegenüber dem «Tagblatt» zu Protokoll gab, «die Finalissima gegen St.Gallen um jeden Preis verhindern» zu wollen.
Kräfteverschleiss nach dem Lockdown
So geht es heute zum Saisonabschluss, bei dem YB wohl einige Stammkräfte schonen wird, nicht mehr um den Meistertitel sondern nur noch um Prestige. In St.Gallen trauert man immer noch dem Ausgang des letzten Duells nach, als die Berner beim 3:3 im Kybunpark sämtliche Unterstützung der Fussballgötter in Anspruch nehmen mussten, um den Platz nicht als Verlierer zu verlassen.
Wäre der Penalty von Hoarau tief in der Nachspielzeit nicht wiederholt worden und hätte der Spielplan nach dem Lockdown im schmalen Kader der St.Galler nicht zu einem dermassen hohen Kräfteverschleiss geführt, stünde heute wohl noch mehr auf dem Spiel.
Doch wer so denkt, verkennt, welch grossartige Arbeit Trainer Peter Zeidler und Sportchef Alain Sutter geleistet haben und welchen Rahmen Präsident Matthias Hüppi mit der Verpflichtung der beiden geschaffen hat.
Demirovic geht – und wer noch?
Wenn heute Abend diese aussergewöhnliche Saison 2019/20 zu Ende geht, sollten zwei Punkte im Zentrum stehen: Einerseits die Freude über die beste Klassierung seit 19 Jahren und andererseits die Frage, wie es mit dem FC St.Gallen weitergehen wird. Klar ist schon jetzt: Ab dem 24. September werden die Espen zwei Endspiele um die Teilnahme an der Europa-League-Gruppenphase bestreiten. Eine solche würde dem Club Einnahmen in der Höhe von rund fünf Millionen Franken in die Kasse spülen.
Weitere Einnahmen könnte der Transfermarkt generieren. Zwar haben die Espen die Verträge mit wichtigen Säulen wie Stergiou, Babic, Ruiz, Fazliji oder Guillemenot unlängst verlängert – genauso wie jene von Trainer Zeidler und Sportchef Sutter (jeweils bis 2025). Dem gegenüber steht die Tatsache, dass die Kontrakte von Quintillà, Letard, Muheim, Itten und Captain Hefti nur noch bis nächsten Sommer Gültigkeit haben und sie dann gratis zu haben wären (vgl. Grafik).
Vertragssituation der FCSG-Stammspieler
Spieler
Vertrag bis
Leonidas Stergiou
2024
Lawrence Ati Zigi
2023
Betim Fazliji
2023
Jérémy Guillemenot
2023
Víctor Ruiz
2023
Boris Babic
2023
Lukas Görtler
2022
Jordi Quintillà
2021
Yannis Letard
2021
Silvan Hefti
2021
Cedric Itten
2021
Miro Muheim
2021
Ermedin Demirovic
wechselt zum SC Freiburg
An der sportlichen Leitung ist es nun, abzuwägen, wie viel Substanz-Verlust diese Mannschaft verkraftet, zumal Peter Zeidler nach dem Kantersieg gegen Xamax den Wunsch geäussert hat, auch in den kommenden Jahren oben mitzuspielen.
Dass sie Abgänge adäquat ersetzen und auch auf die kommende Saison hin eine schlagkräftige Mannschaft zusammenstellen kann, dieses Vertrauen hat die sportliche Leitung der Espen zweifellos verdient. Genauso verdient die Mannschaft heute Abend einen würdigen Schlusspunkt für ein herausragendes Fussballjahr.