Spitzguuge

Wie der FC St.Gallen Vizemeister wurde

03.08.2020, 11:34 Uhr
· Online seit 03.08.2020, 11:32 Uhr
Wenn der FC St.Gallen heute Montag auswärts gegen den alten und neuen Meister YB die Saison abschliesst, geht es zwar noch um Prestige, nicht mehr aber um den Meistertitel. «Trotzdem ist Enttäuschung darüber fehl am Platz», schreibt Sportjournalist Dominic Ledergerber in der Analyse zu einer aussergewöhnlichen Saison.
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Er begann so gut, dieser Freitagabend, der endlich darüber Aufschluss geben sollte, ob heute Montag eine Finalissima steigen sollte oder nicht. Der FC St.Gallen legte gegen Xamax los wie die Feuerwehr, führte nach einer Itten-Doublette schon mit 2:0, als aus dem Tourbillon die Kunde herbeieilte, dass die Young Boys in der 14. Minute ebenfalls in Führung gegangen waren.

Ab da war klar: Bäumt sich der FC Sion nicht noch einmal auf, wird YB den Sack am zweitletzten Spieltag zumachen, was auch eintraf. Der dritte 1:0-Sieg in Folge war für die Berner gleichbedeutend mit dem dritten Meistertitel hintereinander.

Aus Ostschweizer Sicht könnte man also zum Schluss kommen, dass die 6:0-Gala der Espen gegen den Absteiger aus Neuenburg umsonst war. Doch diese Analyse greift zu kurz. Sie berücksichtigt weder den Umstand, dass sich St.Gallen dank dieses Kantersieges vorzeitig Platz zwei sicherte, noch lässt sie Platz für die Frage, wo diese Mannschaft herkam.

Eine Analyse dieser aussergewöhnlichen Saison soll über die Enttäuschung der verpassten Chance, am letzten Spieltag doch noch Meister werden zu können, hinwegtrösten.

Ein Low-Budget-Meisterkandidat

Denn zu Beginn dieser Saison war der FC St.Gallen vieles, nur kein Meisterkandidat. Nach einem schwachen Saisonstart mit nur einem Sieg aus den ersten fünf Spielen standen die Kritiker des St.Galler Weges schon in den Startlöchern, spätestens aber Mitte September, nach dem Cup-Aus gegen Winterthur (0:2), glaubten sie zu wissen, dass dieser Weg in eine Sackgasse führen würde.

Mit ihrer ultrajungen Mannschaft und einem Budget von nicht einmal acht Millionen Franken waren die Espen, so die Betrachtung vieler, schon früh in dieser Saison ins Schlingern geraten – dabei war die Mannschaft von Peter Zeidler erst noch daran, sich zu finden. Milan Vilotic, Moreno Costanzo oder Jonathan Klinsmann standen an diesem 13. September in Winterthur bis heute zum letzten Mal in der Startelf und Vincent Rüfli, der gegen den Challenge-League-Klub ebenfalls von Beginn weg aufgelaufen war, spielte in den Überlegungen seines Trainers erst im gedrängten Spielplan nach Wiederaufnahme der Meisterschaft wieder eine Rolle.

«Low Budget» war der FC St.Gallen schon damals, doch zum Meisterkandidaten wurde er erst nach dem Ausscheiden im Schweizer Cup, als er von den restlichen zwölf Partien bis zur Winterpause deren neun gewinnen konnte – und das mit einer Attraktivität und Dominanz, die gemessen an der nationalen Konkurrenz beispiellos war.

Nur vier der 14 Stammspieler kosteten Geld

Die Fussballschweiz hatte sich sehr schnell an Namen wie Muheim, Stergiou oder Quintilla gewöhnen müssen und je länger die Meisterschaft dauerte auch an das Szenario, dass der Meister erstmals seit 20 Jahren nicht aus Basel, Bern oder Zürich kommen könnte.

Dabei verfügten die Espen nicht nur über die deutlich jüngste Mannschaft der Liga, sie hatten zudem nur für vier der 14 Spieler, die zu Zeidlers Stamm gehörten, eine Ablösesumme bezahlt (vgl. Grafik).

So teuer waren die Low-Budget-Stammspieler des FC St.Gallen

Spieler

Ablöse

Abgebender Club

Lukas Görtler

484'000 Franken

FC Utrecht

Cedric Itten

463'000 Franken

FC Basel

Lawrence Ati Zigi

ca. 100'000 Franken*

FC Sochaux

Miro Muheim

ca. 50'000 Franken*

Chelsea U23

Dejan Stojanovic

ablösefrei

FC Bologna

Yannis Letard

ablösefrei

VfR Aalen

Jérémy Guillemenot

ablösefrei

Rapid Wien

JOrdi Quintillà

ablösefrei

Puerto Rico FC

Víctor Ruiz

ablösefrein

SD Formentera

Ermedin Demirovic

ablösefrei

ausgeliehen von Deportivo Alavés

Silvan Hefti

ablösefrei

eigener Nachwuchs

Betim Fazliji

ablösefrei

eigener Nachwuchs

Leonidas Stergiou

ablösefrei

eigener Nachwuchs

Boris Babic

ablösefrei

eigener Nachwuchs

* Schätzung von Branchekennern
Quelle: transfermarkt.ch

Alles in allem investierte der FC St.Gallen nur rund eine Million Franken in eine Mannschaft, die den FC Basel deutlich hinter sich und stets auch YB ihren Atem im Nacken spüren liess. Wie gross der Respekt der Berner vor den Espen mittlerweile war, zeigt eine Aussage von Topskorer Jean-Pierre Nsamé (30 Tore), der vor dem zweitletzten Spieltag gegenüber dem «Tagblatt» zu Protokoll gab, «die Finalissima gegen St.Gallen um jeden Preis verhindern» zu wollen.

Kräfteverschleiss nach dem Lockdown

So geht es heute zum Saisonabschluss, bei dem YB wohl einige Stammkräfte schonen wird, nicht mehr um den Meistertitel sondern nur noch um Prestige. In St.Gallen trauert man immer noch dem Ausgang des letzten Duells nach, als die Berner beim 3:3 im Kybunpark sämtliche Unterstützung der Fussballgötter in Anspruch nehmen mussten, um den Platz nicht als Verlierer zu verlassen.

Wäre der Penalty von Hoarau tief in der Nachspielzeit nicht wiederholt worden und hätte der Spielplan nach dem Lockdown im schmalen Kader der St.Galler nicht zu einem dermassen hohen Kräfteverschleiss geführt, stünde heute wohl noch mehr auf dem Spiel.

Doch wer so denkt, verkennt, welch grossartige Arbeit Trainer Peter Zeidler und Sportchef Alain Sutter geleistet haben und welchen Rahmen Präsident Matthias Hüppi mit der Verpflichtung der beiden geschaffen hat.

Demirovic geht – und wer noch?

Wenn heute Abend diese aussergewöhnliche Saison 2019/20 zu Ende geht, sollten zwei Punkte im Zentrum stehen: Einerseits die Freude über die beste Klassierung seit 19 Jahren und andererseits die Frage, wie es mit dem FC St.Gallen weitergehen wird. Klar ist schon jetzt: Ab dem 24. September werden die Espen zwei Endspiele um die Teilnahme an der Europa-League-Gruppenphase bestreiten. Eine solche würde dem Club Einnahmen in der Höhe von rund fünf Millionen Franken in die Kasse spülen.

Weitere Einnahmen könnte der Transfermarkt generieren. Zwar haben die Espen die Verträge mit wichtigen Säulen wie Stergiou, Babic, Ruiz, Fazliji oder Guillemenot unlängst verlängert – genauso wie jene von Trainer Zeidler und Sportchef Sutter (jeweils bis 2025). Dem gegenüber steht die Tatsache, dass die Kontrakte von Quintillà, Letard, Muheim, Itten und Captain Hefti nur noch bis nächsten Sommer Gültigkeit haben und sie dann gratis zu haben wären (vgl. Grafik).

Vertragssituation der FCSG-Stammspieler

Spieler

Vertrag bis

Leonidas Stergiou

2024

Lawrence Ati Zigi

2023

Betim Fazliji

2023

Jérémy Guillemenot

2023

Víctor Ruiz

2023

Boris Babic

2023

Lukas Görtler

2022

Jordi Quintillà

2021

Yannis Letard

2021

Silvan Hefti

2021

Cedric Itten

2021

Miro Muheim

2021

Ermedin Demirovic

wechselt zum SC Freiburg

Quelle: transfermarkt.ch

An der sportlichen Leitung ist es nun, abzuwägen, wie viel Substanz-Verlust diese Mannschaft verkraftet, zumal Peter Zeidler nach dem Kantersieg gegen Xamax den Wunsch geäussert hat, auch in den kommenden Jahren oben mitzuspielen.

Dass sie Abgänge adäquat ersetzen und auch auf die kommende Saison hin eine schlagkräftige Mannschaft zusammenstellen kann, dieses Vertrauen hat die sportliche Leitung der Espen zweifellos verdient. Genauso verdient die Mannschaft heute Abend einen würdigen Schlusspunkt für ein herausragendes Fussballjahr.

veröffentlicht: 3. August 2020 11:32
aktualisiert: 3. August 2020 11:34
Quelle: FM1Today

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