Spitzguuge

Von Stille und Stimmung

· Online seit 26.12.2019, 09:02 Uhr
Einmal pro Woche schreibt Sportjournalist Dominic Ledergerber über all das, was sich oberhalb der Grasnarbe abspielt. Heutiges Thema: Fangesänge. Wie sie entstanden und warum sie gefährdet sind.
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Im modernen Fussball und besonders in England gibt es viele Klubs, die als neureich verspottet werden. Vereine, die dank Geldern ausländischer Investoren überhaupt erst den Sprung in Europas Elite geschafft haben. Mannschaften wie Manchester City oder Chelsea. Kaum je zu diesen Neureichen gezählt wird hingegen der FC Liverpool. Und das, obwohl die «Reds» nicht weniger mit Geld um sich schmeissen als die Konkurrenz. Alleine für den Verteidiger Virgil Van Dijk machte der amtierende Champions-League-Sieger fast 85 Millionen Euro locker, als man ihn Anfangs 2018 vom FC Southampton loseiste.

Warum das so ist? Ein Erklärungsversuch ist Liverpools Tradition. Oder anders ausgedrückt: Die «Reds» geben zwar nicht weniger Geld aus, tun dies aber schon länger. Dazu kommt die elektrisierende Stimmung an der Anfield Road, die jeden Fussballfan in ihren Bann zieht. Schliesslich entstanden selbst die Fangesänge in «The Kop», der Tribüne hinter jenem Tor, wo sich der harte Kern der Liverpool-Supporter zu versammeln pflegt.

Aus Not wurde Gesang

Es gab eine Zeit ohne Offside- oder Rückpassregel, ohne VAR oder gar Platzverweise, eine Zeit, in der Fans nur vor und nach dem Spiel zu singen pflegten. Dass sich dies änderte, ist auf einen Vorfall in der Saison 1968/69 zurückzuführen, in der die Liverpool-Fans in «The Kop» aus der Not eine Tugend machten. Der Nebel an jenem Tag war dermassen dicht, dass die Anhänger nicht bis zum gegnerischen Tor sahen und sich entsprechend wunderten, welcher der jubelnd in die eigene Platzhälfte zurückkehrenden Spieler denn der Torschütze war.

Was dann folgte, war genauso schlicht wie genial: «Who scored the Goal», begann «The Kop» im Chor zu skandieren. «Tony Hateley, Tony Hateley», liess die Gegentribüne nicht lange auf sich warten. Für Mittelstürmer Tony Hateley war es nur eines von unzähligen Kopfballtoren, für den Fussball hingegen die Geburtsstunde des Fangesangs.

Heute haben auch in der Super League alle Fanlager ihre eigenen Songs, geklaut von Musikern wie etwa Boney M., Uriah Heep, Mani Matter und vielen anderen, wie das Fussballmagazin «Zwölf» in Erfahrung brachte. Selbstverständlich sind die Fangesänge gleichwohl nicht. Denn genau wie das Regelwerk ändert sich auch die Stadionatmosphäre laufend.

Reiche Zuschauer singen weniger

Es gibt bereits erste Anzeichen dafür, dass der Fangesang dereinst genauso unvermittelt verschwinden könnte, wie er entstanden war. Und diese Anzeichen kommen ausgerechnet aus England, dem Mutterland des Fussballs. Obwohl die Stadien in der Premier League nach wie vor sehr gut ausgelastet sind, ist die Stimmung im Ligaalltag längst nicht mehr das, was sie einmal war.

Der Hauptgrund dafür ist, dass man in England dem Gewaltproblem in den Stadien durch ein massives Erhöhen der Ticketpreise Herr werden wollte – was zwar gelang, jedoch auch einen Nebenaspekt mit sich brachte, der auf die Stimmung drückt. Traditionelle, junge Zuschauer aus der Arbeiterklasse sind in den Stadien seltener geworden. Stattdessen sind es ältere, gutbetuchte Match-Besucher oder Touristen, die bereit sind, die horrenden Ticketpreise zu bezahlen. Und diese scheinen schlicht weniger gerne zu singen. «Sie wollen zwar das Spiel sehen, aber nicht unbedingt daran teilnehmen. Fussball ist für viele eine passive Erfahrung geworden», schrieb dazu etwa Fussball-Autor Paul Brown.

Stiller Protest

Ganz so schlimm ist es in der Super League nicht. Vielleicht auch deshalb, weil der Fussball hierzulande nicht den schillernden Glanz zu vermitteln vermag, wie es etwa in England, Deutschland oder Spanien der Fall ist. Jedenfalls kann sich die Swiss Football League (SFL) auf ein treues Stammpublikum verlassen, das Zuschaueraufkommen lag in den letzten Jahren einigermassen konstant bei zwei Millionen Fans pro Saison, mit einigen Ausreissern nach oben wie auch nach unten.

Wenn in der Super League die Kurven schweigen, dann aus Protest gegen polizeiliche Massnahmen oder die Politik des eigenen Klubs – und nicht etwa, weil die Ticketpreise ein Cüpli-und-Häppli-Publikum angelockt hätten, das Gesang gegenüber abgeneigt ist.

Die gegenwärtigen Verhältnisse in einigen englischen Stadien sollten der SFL aber als Mahnmal dafür dienen, dass eine Übervermarktung der Liga gerade in Puncto Stimmung schädlich sein kann. Nur wenn der Fussball für alle Schichten der Bevölkerung greifbar bleibt, kann er auch seinen Status als Volkssport verteidigen.

veröffentlicht: 26. Dezember 2019 09:02
aktualisiert: 26. Dezember 2019 09:02
Quelle: FM1Today

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