Spitzguuge

Wenn die Schweiz Europameister würde

19.11.2019, 15:48 Uhr
· Online seit 19.11.2019, 15:01 Uhr
Einmal pro Woche schreibt Sportjournalist Dominic Ledergerber für FM1Today über all das, was sich oberhalb der Grasnarbe abspielt. Heutiges Thema: Warum die erfolgreiche EM-Quali der Schweizer Nati kaum jemanden interessiert und die Spieler auf ebendies stolz sein dürfen.  
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Eigentlich hätte es für die Schweizer Nati gestern Abend allen Grund zur Freude gegeben: über die direkte EM-Qualifikation, über den Gruppensieg und über die ersten Länderspiel-Tore von Ruben Vargas, Christian Fassnacht und Loris Benito, sowie den ersten Nati-Doppelpack von FCSG-Überflieger Cedric Itten.

Stattdessen hielt sich die Euphorie über die erst fünfte Qualifikation für eine EM-Endrunde stark in Grenzen. Das 6:1 bei Fussballzwerg Gibraltar war der letzte Schritt in Richtung eines Turniers, das im nächsten Sommer in ganz Europa stattfindet und für das sich 24 der 52 Fussballnationen Europas qualifizierten. Kein glanzvoller Schritt. Und doch ein wichtiger.

Die Schweiz hat es sich erarbeitet, dass die Teilnahme an einer Endrunde in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Und darauf darf sie stolz sein. Denn selbstverständlich ist es bei weitem nicht, welche Entwicklung die Nati in den letzten zwei Jahrzehnten genommen hat.

Alles schreit nach dem Viertelfinal

Es war 1996 in England, als die Schweizer erstmals überhaupt an einer EM-Endrunde vertreten waren. Zwei Jahre davor hatten sie sich nach Jahrzehnten des Wartens wieder einmal für eine Weltmeisterschaft qualifiziert und doch waren sie noch weit davon entfernt, an diesen Turnieren als Stammgast zu gelten.

In den letzten 15 Jahren gab es indes nur noch die EM 2012 in Polen und der Ukraine, welche die Schweiz als Zuschauerin verfolgen musste. An den anderen Turnieren überstand sie meist die Gruppenphase und scheiterte danach oftmals denkbar knapp: im Penaltyschiessen an der WM 2006 gegen die Ukraine. In der Verlängerung an der WM 2014 gegen Argentinien. Im Penaltyschiessen an der EM 2016 gegen Polen. Und nach 90 Minuten an der WM 2018, als man trotz drückender Überlegenheit den Schweden unterlag (0:1).

Mit Ausnahme des Turniers von 2006 waren es in den letzten Jahren stets dieselben Leistungsträger wie Yann Sommer, Granit Xhaka, Xherdan Shaqiri oder Stephan Lichtsteiner, die nach dem knappen Scheitern zur Überzeugung gelangten, dass mehr möglich gewesen wäre. Da ist es erfrischend, Nati-Neuling Ruben Vargas sagen zu hören, dass er sich zwar auf die EM freue, er aber «möglicherweise auch mit der U21-Auswahl grosse Ziele verfolgen» werde.

Der frische Wind in den Reihen von Vladimir Petkovics Mannschaft nimmt den Druck von den Schultern der Arrivierten, der mit jeder überstandenen Gruppenphase an einer EM oder WM zentnerschwer lastet. Während Vargas bescheiden in Frage stellt, ob er im kommenden Sommer überhaupt mit dem A-Nationalteam mitreisen darf, wirkt Xhakas wiederholt geäusserte und rhetorische Frage, warum die Schweiz eigentlich nicht Europameister werden sollte, wie eine Durchhalteparole.

Die Nebengeräusche

Dass die Euphorie am Affenberg gestern Abend in kleinen Dosen in die Schweizer Wohnzimmer transportiert wurde, hängt aber nicht nur mit den gestiegenen Ansprüchen rund um die Nati zusammen. Es liegt auch daran, dass die Nebengeräusche seit der Doppeladler-Affäre an der WM 2018 in Russland nie mehr ganz verklangen. Damals tat sich zwischen Mannschaft und Fans eine Kluft auf: Spieler mit Migrationshintergrund wurden plötzlich nicht mehr an ihren Leistungen gemessen, sondern daran, wie inbrünstig oder ob überhaupt sie vor den Partien die Nationalhymne mitsangen.

Und während viele dachten, dass in Russland ein Stimmungs-Tiefpunkt erreicht worden sei, wurde es seither nicht besser. Die ewigen Diskussionen um den Status von Xherdan Shaqiri innerhalb der Mannschaft zehrten genauso am Wir-Gefühl wie das ewige Nörgeln an Vladimir Petkovic, notabene dem erfolgreichsten Nationaltrainer den wir je hatten (1.87 Punkte pro Spiel). 

Lektionen in Demut

Dabei wäre es jetzt höchste Zeit, sich nicht nur über die gelungene EM-Qualifikation zu freuen, sondern auch innezuhalten und den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Trotz all der Zerwürfnisse innerhalb der Nati, trotz der Kluft zwischen Mannschaft und Publikum, war die Qualität ausreichend, um die Gruppe D vor Dänemark und Irland zu gewinnen und am 30. November in Bukarest wohl aus Lostopf 2 gezogen zu werden.

Vielleicht braucht das Schweizer Nationalteam Lektionen in Demut, um zu erkennen, dass die Qualität gross ist, die nächste Generation um Itten, Vargas, Sow, Cömert oder Ajeti bereits in den Startlöchern steht und die Zukunft rosig sein kann. Denn: Sollte die Schweiz im kommenden Sommer tatsächlich Europameister werden, dann wird sie diesen Exploit nur geschlossen schaffen. Als Einheit in der Garderobe, unterstützt und getragen durch das Publikum.

1994 nahm das Schweizer Nationalteam unter Roy Hodgson nach 30 Jahren Abstinenz wieder an einer Fussball-WM teil. Im Achtelfinale gegen Spanien war die Nati zwar chancenlos (0:3), trotzdem kehrten Ciriaco Sforza, Alain Sutter oder Stéphane Chapuisat als Helden zurück. Auch Sommer, Xhaka oder Lichtsteiner wäre dies zu gönnen. Der EM-Titel ist dafür nicht einmal zwingend.

veröffentlicht: 19. November 2019 15:01
aktualisiert: 19. November 2019 15:48
Quelle: FM1Today

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