Veganuary

Wie gesund ist vegane Ernährung wirklich?

07.01.2022, 15:27 Uhr
· Online seit 24.12.2019, 07:30 Uhr
Viele verzichten im Januar im Rahmen des «Veganuary» gänzlich auf tierische Produkte. Doch wie gesund ist der Vegan-Trend und kann er die Leistung steigern und die Gesundheit fördern? Unsere Redaktorin Lara Abderhalden hat sich mit dem Thema auseinander gesetzt.
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«Für mich bitte ohne Fleisch», ich mustere den muskulösen Mann, der sich vor mir in der Kantine eine Kelle voll Polenta, Bohnen und Spinat schöpfen lässt. «Sind da Butter oder Milch drin?», fragt der Mann und deutet auf die Polenta in seinem Teller. Die Frau an der Theke nickt und Mister-ich-gehe-jeden-Tag-ins-Fitness tauscht das Menu 1 gegen einen grünen Salat.

Sportler setzen auf vegane Ernährung

«Wenn du in einem Restaurant bist, ist es nicht ganz einfach, Veganer zu sein», erzählt mir ein Bekannter aus dem Turnverein ein paar Wochen nach dem Erlebnis in der Kantine. Der rund 30-Jährige hat alle tierischen Produkte aus seinem Menuplan gestrichen. Der sehr sportliche Geselle tat das aus einem bestimmten Grund: «Ich habe den Film ‹The Game Changer› gesehen.» Keine Scham, keine Zurückhaltung – dass der gestandene Mann und Sportler auf tierische Proteine verzichtet, ist ihm nicht peinlich. Von der Zurückhaltung, mit der Menschen, die auf Diät sind, ihre speziellen Essgewohnheiten zu verstecken versuchen, ist nichts zu spüren.

«Ich habe meine Ernährung umgestellt, weil ich eine Entzündung hatte», erzählt mir ein Fussballer aus dem Bekanntenkreis. Die Entzündung sei bereits Wochen nach der Ernährungsumstellung zurückgegangen. Der Promotion-League-Spieler erhielt die Empfehlung der veganen Ernährung von einem befreundeten Skifahrer, der ebenfalls Spitzensport betreibt.

Von mehreren Mannschaften, unter anderem dem BVB, ist bekannt, dass sich die Spieler zum grössten Teil vegan ernähren. Gerade den Januar nehmen viele zum Anlass, es mit veganer Ernährung zu probieren. Deshalb erlebt der Film «Game Changer» wieder vermehrte Aufmerksamkeit.

Der Film veränderte meine Einstellung

Ist Veganismus legales Doping? Lässt Spinat wie bei Popeye die Muskeln wachsen und wird ein Sportler durch Quinoa schneller und gesünder? Diese Fragen stellten sich mir nach Gesprächen mit überzeugten Veganern.

Ich selbst bin ziemlich sportlich, esse grundsätzlich wenig Fleisch, dennoch waren mir diese Schilderungen überdimensionaler Leistungssteigerung durch Fleisch-Verzicht suspekt. «Was ist schon gesund?!», hörte ich mich Personen entgegnen, die mich auf den Film ansprachen. Oder ich fragte: «Willst du gar nichts mehr essen? Auch Chips sind krebserregend.» Es erstaunte mich, wie stark ich mich über dieses Thema aufregte. Ich hatte es einfach satt, mir vorschreiben zu lassen, was gut und was schlecht für den Körper ist.

Dennoch habe ich den Film geschaut und meine Skepsis verwandelte sich zuerst in Erstaunen, dann in konstante «krass»-Ausrufe und schliesslich in die feste Entschlossenheit, sofort auf jegliche tierischen Produkte zu verzichten, den Kühlschrank mit pflanzlichen Alternativen zu füllen, Spitzensportlerin zu werden und alle meine Freunde und Bekannte von einem veganen Lebensstil zu überzeugen.

Meine grosse Liebe zum Käse liess eine gänzliche Abstinenz tierischer Lebensmittel aber nicht zu, weshalb ich zum Flexitarier mutierte und nun versuche, unter der Woche kein Fleisch zu essen.

Haben wir uns immer falsch ernährt?

Der Film porträtiert verschiedene vegane Spitzensportler, darunter sind beispielsweise ein Boxer, eine Radfahrerin und einer der stärksten Männer der Welt, Patrik Baboumian. Es wird anhand verschiedener Tests aufgezeigt, welche negativen Auswirkungen Fleischkonsum haben kann. Beispielsweise, dass sich dadurch die Blutbahnen verengen und das Risiko eines Herzinfarkts steigt. Ein anderer Test zeigt, dass Männer, die sich vegan ernähren, im Schnitt häufiger eine Erektion haben, als solche, die tierische Produkte konsumieren. Auch die Leistungsfähigkeit soll durch die gesättigten Fettsäuren, die in tierischen Produkten enthalten ist, abnehmen.

Ein starkes Beispiel aus dem Film: Ein MMA-Fighter verzichtet auf tierische Produkte, erholt sich dadurch sehr schnell von einer Verletzung und schafft im Krafttraining plötzlich drei Mal so viele Wiederholungen wie zu jener Zeit, als er noch drei Mal pro Tag Fleisch zu sich nahm. Wie ist das möglich? Haben wir uns ein Leben lang falsch ernährt?

Jein, sagt Wilma Schmid. Sie ist Ernährungsberaterin in Luzern und spezialisiert auf Sporternährung: «Ich kann mir vorstellen, dass die Leistungssteigerung damit zusammenhängt, dass Sportler, die vegan werden, bewusster essen.» Eine vegane Ernährung erfordere sehr viel Zeit, Ressourcen und ist mit Kosten verbunden. «Wer auf tierische Produkte verzichtet, hat sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt.» Viele hätten vorher vermutlich nicht allzu sehr auf die Ernährung geachtet.

Die Luzerner Ernährungsberaterin erhielt in letzter Zeit vermehrt Anfragen von Sportlern, die sich über eine vegane Ernährung erkundigen wollten: «Viele fragten mich nach meiner Meinung zum Film.» Sie selbst habe viele Kritiken zum Film gelesen und findet den Film zu wenig differenziert: «So viel ich weiss, ist die Thematik im Film sehr einseitig aufgearbeitet. Es wird sehr dafür geworben, dass eine vegane Ernährung das einzig Gute für Sportler ist.»

«Die Menge macht das Gift»

Will sich ein Sportler vegan ernähren, fragt die vom internationalen olympischen Komitee diplomierte Ernährungsberaterin immer zuerst nach dem Beweggrund. Ist die Motivation begründet, hilft Wilma Schmid den Sportlern gerne, ihre Ernährung so umzustellen, dass eine bedarfsdeckende, pflanzliche Ernährung möglich ist. «Proaktiv gehe ich aber nicht auf Sportler zu, ich empfehle niemandem eine vegane Ernährung.» Grundsätzlich findet Schmid es empfehlenswert, weniger tierische Produkte zu essen, aber: «Ich finde nicht, dass es auf diese extreme Art sein muss.» Denn auch Fleisch habe, beispielsweise durch den Vitamin-B12-Gehalt, der durch pflanzliche Produkte nicht ersetzt werden kann, seine Vorteile.

Extrem ist nie gut, findet Ruedi Hadorn, Direktor des Schweizerischen Fleischfachverbands SFF. «Die Menge macht das Gift», zitiert Hadorn den bekannten ehemaligen Schweizer Arzt Paracelsus. «Wenn man zu viel Wasser trinkt, ertrinkt man – zu wenig führt zum Verdursten. Wie bei allem gilt auch bei den Lebensmitteln, insbesondere beim Fleisch, die goldene Mitte zu finden.»

«Veganer sind missionarisch unterwegs»

Auf die Wahlfreiheit komme es an: «Wir wollen keine Bevormundung. Was auf den Teller kommt, bestimmt jeder selbst.» Oder sollte er zumindest können – gemäss Ruedi Hadorn versuchen einzelne Veganer Andersdenkende gezielt zu einer veganen Ernährung zu überreden: «Ich stelle gewisse Gruppierungen fest, die die ganze Entwicklung zum Fleischverzicht mit missionarischen Zielen verfolgen. Einzelne Kreise haben bevormundende Tendenzen.» Dadurch würde eine Diskussion auf fachlicher Ebene schwierig.

«Das Thema Ernährung ist extrem komplex und sehr emotional», sagt Hadorn, «es ist ein Kernthema in der Gesellschaft und das war es früher nicht.»

Dass das Thema Veganismus in aller Munde ist, darüber ist Laura Lombardini, Geschäftsleiterin der vegangen Gesellschaft Schweiz nicht unglücklich: «Das ist grossartig. Wir finden es extrem toll, dass endlich über dieses Thema diskutiert wird.» Die Dokumentation zeige, dass es für sportliche Höchstleistungen kein Fleisch brauche. «Klar lässt sich wissenschaftlich nicht alles im Film belegen, aber darum geht es auch nicht. Für uns ist die praktische Umsetzung wichtig: Es sind Muskelprotze im Film zu sehen, die Muskeln aufbauen, obwohl sie auf tierische Proteine verzichten.»

«Übertreiben ist manchmal gut»

Es brauche manchmal das Übertriebene, damit die Menschen hinhören, sagt Lombardini. «Die Leute wollen generell gesund leben und auch die Ökologie und das Klima sind grosse Themen. Deshalb wird das eigene Verhalten und dessen Auswirkungen in der heutigen Gesellschaft vermehrt reflektiert und eine vegane Ernährung in Betracht gezogen.»

Trotz des Vegan-Trends – wovon alle drei Gesprächspartner sprechen – ist der Anteil an Vollblut-Veganern in der Schweiz immer noch sehr klein. Rund ein Prozent der Schweizerinnen und Schweizer verzichten gänzlich auf tierische Produkte. Der Fleischkonsum habe im vergangenen Jahr zwar um rund zwei Prozent abgenommen, das sei aber unter anderem auf eine neue Zählweise zurückzuführen. Im Schnitt konsumiert jeder Schweizer und jede Schweizerin gemäss Pro Viande pro Jahr knapp 50 Kilogramm Fleisch.

«Ein Cordon-Bleu mit Pommes» – meine Liebe zum Käse und meine Unfähigkeit, Fleisch gänzlich aus meinem Leben zu streichen, führen dazu, dass die Frau hinter der Theke mir das saftige, käseverschmierte, panierte Stück auf den weissen Teller legt. Meine vegetarischen Vorsätze werden vom knurrenden Magen übertönt, dem nicht einmal die sich spannenden Muskeln unter dem T-Shirt des Mannes mit dem grünen Salat Paroli bieten können. «Man ist, was man isst» – gut möglich, dass eine vegane Ernährung gesünder ist als eine mit Fleisch. Ich liebe aber das Essen zu sehr, um auf gewisse Dinge gänzlich zu verzichten und ich bin mit 30 Jahren sowieso zu alt, um Spitzensportlerin zu werden.

veröffentlicht: 24. Dezember 2019 07:30
aktualisiert: 7. Januar 2022 15:27
Quelle: FM1Today

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