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Philosoph Gebauer sieht Tokio 2021 als Risiko, aber auch als Chance

25.12.2020, 15:19 Uhr
· Online seit 25.12.2020, 15:05 Uhr
Die auf 2021 verschobenen Olympischen Spiele in Tokio werden für die Organisatoren rund 2,5 Milliarden Franken teurer. Der deutsche Sportphilosoph Gunter Gebauer sieht das IOC unter grossem Druck.
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Mehrkosten in Milliardenhöhe, die Debatte um eine Impfpflicht aufgrund der Coronavirus-Pandemie. IOC-Präsident Thomas Bach will den Grossanlass trotz vieler Risiken durchziehen. Aber braucht es den auf 2021 verschobenen Mega-Event in Tokio überhaupt? Die Olympischen Spiele könnten ein positives Zeichen der Gemeinsamkeit setzen, glaubt der deutsche Philosoph und Sportsoziologe Gunter Gebauer. 

«Wir haben nicht den einen grossen Krieg, sondern ganz viele Kriegsherde und schwelende Konflikte. Dass man darüber hinweg sich treffen kann zum Sport, nicht einfach nur zum Vergnügen, sondern auch, indem man gemeinsam friedliche Wettkämpfe veranstaltet, ein Verständnis über die verschiedenen Grenzen hinweg entwickelt, ist eine wertvolle Sache», sagte der emeritierte Professor der FU Berlin im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Zugleich warnte er aber auch vor einem potenziellen «Super-Super-Spreader».

Herr Gebauer, sind die Olympischen Spiele 2021 für die (Sport)-Welt unverzichtbar?

«Man kann sagen, dass Sport nicht unbedingt unverzichtbar ist, weil er nicht zu unserem Überleben beiträgt. Aber das ist eine sehr vordergründige Auffassung. Das ist bei allen möglichen Varianten von Kultur so, und dazu würde ich den Sport auch zählen. Der Grund ist ein anderer: Sie geben uns Hoffnung, sie ermöglichen uns Höhenflüge und richten uns in dieser gedrückten Stimmung wieder auf. Das sind enorm wichtige Manifestationen des Menschseins in einem Kontext grosser Gefährdung. Deswegen finde ich, sind alle diese Manifestationen, die zeigen, dass Menschen nicht nur Opfer von Corona sind, sondern auch von sich aus grosse Dinge leisten können, sehr wichtige Beispiele. Das trifft zu für Musik, für Theater, für Tanz und natürlich auch für Sport.»

Ist es aufgrund der vielen Unsicherheiten vertretbar, Zehntausende von Athleten nach Japan zu schicken für einen Sportanlass?

«Sie werden nicht geschickt, sie fahren dorthin und müssen überhaupt erst mal ins Land gelassen werden. Ich kenne Japan einigermassen gut, ich war selbst Gastprofessor dort. Die Japaner sind extrem vorsichtig mit der Pandemie umgegangen, sie sind immer vorsichtig mit Gefahren gewesen und sind es auch heute. Es würde mich deswegen wundern, wenn Japan ohne weiteres Zehntausende einfach ins Land lässt, um Sport zu machen. Ich denke, dass wenn die Athleten zugelassen werden, das nur unter ganz bestimmten, sehr restriktiven Bedingungen möglich ist. Japan braucht auch möglichst viele ausländische Gäste und Zuspruch. Man hatte irrsinnig hohe Kosten für die Spiele, dann kamen die Verschiebung und weitere Kosten hinzu.»

Was halten Sie von der Idee einer Impfpflicht, die IOC-Präsident Thomas Bach ausschliesst?

«Ich finde, eine Impfpflicht kann man nicht einführen. Man kann die Verpflichtung zu einem Test einführen, was wohl auch der Fall sein wird. Eine Impfpflicht einführen, das ist ein Eingriff in die Körperlichkeit. Ich bin kein Impfgegner, aber andere Menschen, die Furcht davor haben und schlechte Erfahrungen mit Impfungen gemacht haben, kann man nicht dazu verpflichten. Aber man müsste sicher sein, dass diese Leute, die nicht geimpft sind, auf jeden Fall nicht infektiös sind. Bei 10'000 Athletinnen und Athleten im olympischen Dorf ist der Gefahrenherd gewaltig. Wenn das nicht beherrschbar ist, ist es besser, man lässt die Spiele ausfallen, als dass man so etwas wie einen Super-Super-Spreader veranstaltet. Denn hinterher fahren alle wieder nach Hause in alle Gegenden der Welt. Dann ist die Pandemie noch mal potenziert, falls eine Pandemie überhaupt potenzierbar ist.»

Hat sich der Sport, im konkreten Beispiel das IOC, mit dieser auch finanziellen Abhängigkeit von Grossanlässen in eine Zwangslage gebracht, die es aufzulösen gilt?

«Das IOC hat trotz aller Unsicherheit, die enorm ist, einfach einen Termin für dieses Riesenereignis angesetzt. Das ist schon mutig im Moment. Der Druck aus finanziellen Gründen auf das IOC ist ausserordentlich hoch. Ich nehme Thomas Bach ab, wenn er sagt, es geht nicht, dass Olympische Spiele ausfallen. Olympische Spiele sind nur sehr selten ausgefallen, das war in beiden Weltkriegen so. Ansonsten haben Olympische Spiele immer stattgefunden, auch in Kriegszeiten, obwohl ja ständig vom olympischen Frieden geredet wird.»

Können die Olympischen Spiele ein positives Zeichen setzen?

«Wenn man die Überzeugung gewinnt, die Olympischen Spiele seien eine sehr wichtige Veranstaltung, die so etwas wie das Gemeinsame von Menschen ausdrückt, über die Grenzen der Ethnien hinweg, über die Kulturen hinweg, dann haben wir tatsächlich im Weltsport mit dem Olympismus so etwas wie eine grosse Kultur. Diejenigen, die sich daran beteiligen, auf jeden Fall jene in der westlichen Welt, empfinden das als eine Gemeinsamkeit. Das ist etwas sehr Wichtiges, wenn wir uns anschauen, wo überall auf der Welt es brennt und wo Konflikte explodieren können. Wir haben nicht den einen grossen Krieg, sondern ganz viele Kriegsherde und schwelende Konflikte. Dass man darüber hinweg sich treffen kann zum Sport, nicht einfach nur zum Vergnügen, sondern auch, indem man gemeinsam friedliche Wettkämpfe veranstaltet, ein Verständnis über die verschiedenen Grenzen hinweg entwickelt, ist eine wertvolle Sache. Das Friedliche ist das Dominierende bei den Olympischen Spielen, das muss man immer wieder herausstreichen. Das ist kein Ersatzkrieg. Möglicherweise war es das mal zwischen Ost- und Westblock, aber das ist schon lange her.»

Wie wird das Publikum auf die Spiele reagieren?

«Man wird sehen, ob das weltweite Publikum die Olympischen Spiele ohne Weiteres annimmt. Es kann sein, dass den positiven Effekten zum Trotz, Olympia vom grossen Publikum nicht wirklich angenommen wird, weil so viel Leid passiert ist, weil die Furcht so gross ist. Das kann man nicht ganz ausschliessen. Es hängt davon ab, wie sich die Lage entwickelt. Wenn die Impfungen gut klappen und viele Menschen geimpft sind, so dass man im nächsten Jahr vieles lockern kann, man sich nicht mehr ängstlich in sich verkriecht, dann könnten die Olympischen Spiele im japanischen Hochsommer so etwas wie ein Wiederaufatmen sein, wie ein Signal, dass die Normalität langsam wieder einkehrt. Es könnte ein Fanal sein, das sehr viel Kraft hat, weil es in der ganzen Welt empfangen wird.»

veröffentlicht: 25. Dezember 2020 15:05
aktualisiert: 25. Dezember 2020 15:19
Quelle: sda

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