«In vier Jahren wäre Serbien klarer Favorit»

22.06.2018, 07:00 Uhr
· Online seit 22.06.2018, 04:00 Uhr
Aleksandar Stojanovic kommentiert seit Jahren die Spiele der serbischen Nationalmannschaft im TV. Nun spricht er über das Spiel zwischen der Schweiz und Serbien.
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In Serbien nennen sie Stojanovic «Aca Informacija», eine Journalistin sagt über ihn: «Er weiss über die Spieler mehr als diese selbst.» Als fundierter Kenner der internationalen Fussball-Szene schreibt er regelmässig Kolumnen im englischen «Guardian» und in der französischen Zeitung «La Provence».

Herr Stojanovic, die Partie Serbien gegen die Schweiz ist ein vorgezogener Gruppen-Final im Kampf um den zweiten Achtelfinal-Platz neben Brasilien. Nach dem Startsieg gegen Costa Rica sind die Serben ziemlich zuversichtlich.

Aleksandar Stojanovic: «Dieser Sieg hat uns gezeigt, dass wir ein gutes Team haben und dass wir vor allem einen Trainer haben, der sein Handwerk versteht.»

Hatten Sie die Fähigkeiten von Nationalcoach Mladen Krstajic angezweifelt?

«Wir wussten nicht, ob er nicht zu wenig Erfahrung hat. Schliesslich war er zuvor noch nie Cheftrainer eines Profi-Teams. Wir wussten nicht, ob die Bühne einer WM nicht zu gross ist für ihn und seine Mannschaft. Die Leistung gegen Costa Rica hat uns beruhigt. Aber ich muss dennoch etwas zur Ausgangslage sagen.»

Ja, bitte!

«Die Schweiz geht als Favorit in diese Partie. Die Mannschaft hat viel Turnier-Erfahrung. Sie hat in den letzten über 20 Spielen nur einmal verloren. Sie hat sogar gegen Brasilien ein Unentschieden erreicht und sie hat einen sehr guten, sehr erfahrenen Trainer. Ich würde sagen, dass die Vorteile im Verhältnis 60:40 bei der Schweiz liegen.»

Was spricht für Serbien?

«Die defensive Disziplin und die Organisation. Und die Tatsache, dass wir immer zu Chancen kommen, auch wenn wir eher defensiv spielen.»

Die Schweiz setzt auch auf Disziplin und Organisation.

«Deshalb wird dies taktisch vielleicht eines der besten Spiele der WM-Vorrunde. Aber wir werden wohl kein Spektakel erleben. Ich könnte mir gut ein 0:0 vorstellen. Aber noch etwas: Wenn wir ein solches Gespräch in vier Jahren führen, werde ich sagen: Serbien ist im Verhältnis 70:30 Favorit.»

Weshalb?

«Die Struktur und die Stärken der beiden Teams sind sehr ähnlich. Hinten stehen beide gut. In der Mitte hat die Schweiz Granit Xhaka, wir haben Nemanja Matic. Vorne habt ihr Xherdan Shaqiri, wir haben Sergej Milinkovic-Savic. Und wir beide haben wohl nicht den Mittelstürmer im Kader, der WM-Torschützenkönig wird. Aber die Schweizer sind in der Entwicklung eben fünf Jahre voraus. Die Mannschaft hat viele Turniere gespielt und erfuhr in den letzten Jahren kaum Wechsel. Das ist an einer WM meistens entscheidend. Die Schweiz hat jetzt ihren Zenit erreicht, wir dagegen stehen erst am Anfang einer Entwicklung.»

Ist die serbische Mannschaft an dieser WM vor allem auch am Lernen?

«Wir sind keine Lehrlinge, denn es gibt auch zahlreiche Routiniers. Aber wenn wir uns mit der Schweiz vergleichen, müssen wir realistisch sein. Die Achtelfinal-Qualifikation ist möglich, aber sie ist in erster Linie ein grosser Wunsch. Wir sollten uns nicht zu sehr unter Erfolgsdruck setzen.»

Wenn Sie davon sprechen, dass die Serben gegenüber der Schweiz ein paar Jahre im Rückstand sind, führt das zur Frage: Weshalb? Serbien hat im Prinzip ein grösseres Reservoir an Spielern als die Schweiz.

«Das Material war immer da. Aber unser Captain Aleksandar Kolarov hat kürzlich gesagt: ‹Es war jahrelang so, dass man Diesel statt Benzin in den Tank gefüllt hat.› Er meinte damit, dass es einfach nicht gepasst hat. Die Spieler, der Trainer, die Medien. Immer hat es irgendwo gestockt. Es fehlten Stabilität und Konstanz. Aber wie sollte man diese erreichen? In den letzten acht Jahren hatte Serbien sechs oder sieben Nationaltrainer. Man hat sich vom Trainer sogar nach der erfolgreichen WM-Qualifikation getrennt.»

Von aussen betrachtet scheinen diese Probleme immer politisch motiviert.

«Das kann sein, vielleicht aber auch nicht. Es gibt diese Stimmen. Aber wir können nur spekulieren. Beweise für politische Einmischung hat niemand. Deshalb will ich mich an dieser Diskussion lieber nicht beteiligen.»

Ein Fakt ist jedoch, dass die albanisch-stämmigen Schweizer Nationalspieler vor der Partie vom Freitag in den serbischen Medien zum Thema wurden.

«Es soll Provokationen von den Schweizern gegeben haben. Ob das stimmt oder erfunden ist, weiss ich nicht. Aber schlimm finde ich, dass es auch 2018 noch immer diese Diskussionen über die Herkunft gibt. Dieser ist Serbe, jener ist Albaner. Dieser ist Kroate, jener ist Bosnier. Immer kommt das hoch, wenn es um Fussball geht. Was soll das? Der Fussball sollte die Welt besser machen und zusammenbringen. Aber durch solche Diskussionen geschieht genau das Gegenteil.»

veröffentlicht: 22. Juni 2018 04:00
aktualisiert: 22. Juni 2018 07:00
Quelle: SDA

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