Bewegende Aufarbeitung eines historischen Unrechts

29.05.2019, 12:37 Uhr
· Online seit 29.05.2019, 12:18 Uhr
Das Theater St. Gallen setzt sich erneut mit einem dunklen Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte auseinander: In «Verminte Seelen» geben die Schauspieler administrativ Versorgten eine Stimme. Leidensgeschichten, die unter die Haut gehen.
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Jahrzehntelang wurden unliebsame Personen ohne Gerichtsurteil in Anstalten weggesperrt. Die Praxis der administrativen Versorgungen war in der Schweiz allgegenwärtig. Von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre dürften es bis zu 60'000 Betroffene gewesen sein.

Uraufführung in der Lokremise

Nach «Das Schweigen der Schweiz» und «Lugano Paradiso» setzt das Theater St. Gallen in «Verminte Seelen» seine Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Themen fort. Am Dienstag hatte das Schauspielprojekt «Verminte Seelen» Uraufführung in der Lokremise.

Es ist ein verstörendes Stück entstanden, dass die bewegenden Schicksale administrativ versorgter Menschen exemplarisch erzählt. Es sei kein Wort erfunden, sagte Regisseurin Barbara-David Brüesch bei der Einführungsmatinée. Das Projekt stützt sich auf umfangreiche Recherchen.

Stück über Waisenkinder

«Verminte Seelen» erzählt die Geschichten von Uschi (Birgit Bücker), Carol (Diana Dengler), Mario (Fabian Müller) und Christian (Marcus Schäfer). Sie hatten von Anfang an nicht den Hauch einer Chance. Sie wurden schon als Kinder versorgt, in Heime gesteckt, umerzogen, missbraucht oder für Medikamentenexperimente benutzt.

«Das Entsetzen steigerte sich», sagt Uschi und wieder fliegt ein Pfeil auf die Landkarte der Schweiz und markiert ein neues Heim. 21 Heime und 5 Pflegefamilien waren es im Fall von Uschi, Kind jenischer Eltern. «Und was, wenn ich nie wieder rauskomme», fragt sich Carol, die im Frauengefängnis Hindelbank eingesperrt wird.

Pascale Pfeuti schlüpft in Mutterrollen, spielt eine Krankenschwester, eine Nonne und eine Jugendanwältin, aber auch die Rolle von Gerard. Er ist wie Mario ein Waisenkind. Die beiden freunden sich in der Erziehungsanstalt an. Sie bekommen eine Nummer verpasst.

Gerard hält den Missbrauch, die Schläge, den Essensentzug nicht mehr aus und erhängt sich am Bettpfosten. Er wird abgehängt und weggebracht. Ping-Pong-Bälle donnern auf den Bühnenboden. Über den Suizid wird für immer geschwiegen. «Am Schlimmsten war die Einsamkeit», sagt Mario.

Grauen der Vergangenheit wird fassbar

Die administrativ Versorgten erlebten die Niedertracht der Behörden, Priester, Lehrer, Adoptiveltern und Ärzte. Bruno Riedl spielt überzeugend die Rolle des «Bösen», des «Teufels», der die Opfer unter dem Deckmantel der Fürsorge und im Namen der Kirche missbraucht. Zitiert aus Akten, verliest Protokolle und führt eine «harte Hand», wenn der Zögling nicht pariert oder sich aus Angst in die Hosen macht.

Das Grauen wird fassbar, und einzelne Sätze brennen sich dem Publikum ins Gedächtnis ein. «Als ich 1989 meine Akte las, brach mir das das Genick», sagt Uschi. Als sich die echte Uschi aus dem Off zu Wort meldet, stockt dem Publikum der Atmen. «Es sind Monster», wird Mario im Anschluss an die Premiere den Papst zitieren, der ihn in Rom zu einer Audienz empfangen hat.

Das Geschehene hat trotz Schuldeingeständnissen bei den Opfern tiefe Narben hinterlassen. Alltägliches kann Flashbacks auslösen, die wie Minen explodieren. «Seelenminen» nennt es eine Betroffene.

Kommission soll Vergangenheit aufarbeiten

Der Bundesrat hat 2014 eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) eingesetzt, um die Praxis der Versorgungen wissenschaftlich aufzuarbeiten, ähnlich wie es zuvor die Bergier-Kommission zum 2. Weltkrieg getan hatte.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist Teil der Rehabilitation von Opfern der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, mit der der Bund das historische Unrecht anerkennt. Die UEK hat mit über 60 Zeitzeugen Interviews geführt und legt ihre Erkenntnisse in diesem Jahr in mehreren Publikationen dar.

Ein anderes Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) widmet sich den Verdingkindern. Für die Opfer aller Zwangsmassnahmen wurde ein Fonds mit 300 Millionen Franken geschaffen. Rund 9000 Personen haben beim Bund ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag gestellt.

Auch im Kanton St. Gallen sind Kinder, junge Menschen und Erwachsene von Amtes wegen in Heimen, Anstalten oder bei Privaten platziert worden. Die Stiftung Opferhilfe hat bis Ende des letzten Jahres 479 Betroffene aus dem Kanton St. Gallen beraten. Davon haben 423 ein Gesuch für einen Beitrag gestellt.

Am 21. September wird in der Lokremise einen Gedenkanlass veranstaltet, mit dem an das begangene Unrecht erinnert wird. Anschliessend wird ein «Erinnerungszeichen» auf dem nahen Spielplatz Kreuzbleiche eingeweiht.

veröffentlicht: 29. Mai 2019 12:18
aktualisiert: 29. Mai 2019 12:37
Quelle: SDA

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