Wenn die Welt plötzlich kopfsteht. Weil jemand nicht mehr da ist, weil sich alles verändert oder weil man selbst an einem fremden Ort neuen Halt suchen muss. Die Schweizer Autorinnen Patricia Büttiker, Franziska Löpfe und Seraina Kobler erzählen in ihren 2020 erschienenen Debütromanen von Frauen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Vertrautes loslassen und sich neu orientieren.
Mit der Schwester am Sterbebett
Eine Mutter liegt im Sterben. Ihre beiden Töchter Esther und Gloria verbringen die Nacht an ihrem Bett im Krankenhaus und warten mit einer Mischung aus Angst und Ungeduld auf das Unausweichliche. Das Leben ist für die Sterbende bloss noch eine Wolke, die sich langsam auflöst.
In «Nacht ohne Ufer» führt Patricia Büttiker ihr Lesepublikum durch eine nicht enden wollende Nacht. Lässt Seite für Seite tiefer blicken in die schwierige Vergangenheit der Halbschwestern, in das belastete Verhältnis zwischen Esther und ihrer Mutter. Erinnerungen blitzen auf und holen Esther immer wieder ein. Verdrängtes wechselt sich ab mit der schwer erträglichen Gegenwart.
Sprachlich kommt dieses Wechselspiel in sachlichen, manchmal rapportartigen Sätzen zum Tragen, in häufig wechselnden Perspektiven und Zeitebenen. Auch beim Lesen dreht man sich oft im Kreis, hofft auf eine Wende, die in dieser Nacht fast nicht kommen will.
Die Autorin Büttiker, die im Thurgau aufgewachsen ist und heute in Zürich lebt, spielt bewusst mit diesem Vakuum, mit der Langeweile und macht es weder ihren Figuren noch ihren Leserinnen und Lesern leicht. Nur langsam nähern sich die unterschiedlichen Schwestern einander in dieser Endlosschlaufe aus Stunden, Minuten und Sekunden an. Und so kommt er irgendwann doch, der Morgen, der für Esther Ende und Neuanfang gleichermassen in sich birgt.
Langer Weg zur Eigenständigkeit
Im Roman «La Catherine» von Franziska Löpfe verlässt eine junge Frau in den Siebzigerjahren ihr Walliser Dorf im Goms, wo sie aufgewachsen ist. Sie will in Genf ein Haushaltslehrjahr absolvieren. Der Wechsel vom Dorf in die Stadt gestaltet sich für die 16-jährige Bauerntochter erst einmal schwierig.
Dass sie einen Beruf erlernen und ihr eigenes Geld verdienen will, versteht man in ihrem Heimatdorf nicht. Dort hält man Kathrin für eine Verräterin, in der Stadt ist «la Catherine» die Fremde. Es ist nicht nur die fremde Sprache, es ist eine komplett andere Welt, bei «Madame» und «Monsieur». Als sich Katharina verliebt, entscheidet sie sich, ermutigt von ihrem Freund, in Genf eine «richtige» Lehre zu machen, eine mit einem ordentlichen Lohn und Zukunftsperspektive.
Die Zürcher Psychotherapeutin und Sachbuchautorin Franziska Löpfe zeichnet tagebuchartig den Weg einer jungen Frau nach, die lernt, für sich selbst einzustehen - in einer Zeit, in der das Frauenstimm- und Wahlrecht nach langem Kampf eben erst eingeführt wurde. In einer Zeit, in der die Arbeitsverträge der Frauen von ihren Ehemännern oder Vätern unterschrieben werden mussten.
Literarisch fehlt es dem Roman an Raffinesse. Die Dialoge wirken oft hölzern, Spannung und Tempo wollen sich nicht recht einstellen. Dafür flicht Löpfe viel politisches und gesellschaftliches Wissen in den Text ein. So ist «La Catherine» mit der historischen Perspektive durchaus spannend zu lesen.
Die Welt beginnt zu brennen
Bei Patricia Büttiker ist es das Sterben, bei Franziska Löpfe der Umzug. Bei Seraina Kobler ist es eine Schwangerschaft, die Annas Welt im Roman «Regenschatten» ins Wanken bringt und ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Dazu kommt eine durch die Klimakrise bedingte Naturkatastrophe, die wie eine apokalyptische Bedrohung wirkt und gleichzeitig erschreckend realistisch ist: Am Zürichberg bricht nach einem verheerenden Hitzesommer ein Waldbrand aus.
Vergleichsweise wenig Menschen kommen ums Leben, doch die tickende Zeitbombe Klimawandel ist nun nicht mehr wegzureden. Das Thema Klimawandel verwebt Kobler geschickt mit dem persönlichen Schicksal Annas.
Äussere und innerer Zerrüttung wechseln sich in «Regenschatten» ab, bedingen und nähren sich. Die Zürcher Journalistin und Autorin schreibt in flirrender, temporeicher und beklemmender Sprache. Die Spannung baut sich langsam auf, als würden die Wände um einen herum mit jeder gelesenen Seite ein Stückchen näherkommen. Einmal angefangen, lässt sich das Buch «Regenschatten» nur schwer wieder weglegen. Und obwohl auch hier am Ende ein zaghafter Neuanfang steht, bleiben die Wände um einen herum eng. Ein grosser Wurf..*
*Dieser Text von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.