Schweizer Buchpreis

Tom Kummer: das Leseerlebnis einer Meditation der Trauer

06.11.2020, 12:30 Uhr
· Online seit 06.11.2020, 12:25 Uhr
Tom Kummers Roman «Von schlechten Eltern» ist eine intime Trauergeschichte, die auf seiner eigenen Biografie beruht. Dafür hat er sprachlich nach einem Sound gesucht, der seine Leser zu neuen Erfahrungen animieren soll.
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Tom Kummer streift sich die nasse Jacke von den Schultern. Gerade ist er von seiner Wohnung im Berner Ostring in die Innenstadt geradelt, eine gute Viertelstunde lang, im strömenden Regen. Nun sitzt er vor einem dampfenden Kaffee und reibt mit einem Taschentuch die beschlagenen Brillengläser trocken.

In seinem Roman «Von schlechten Eltern» reist Tom Kummer, so heisst auch sein Protagonist, um einiges komfortabler: Als Fahrer einer Limousine befördert er nachts zwielichtige Geschäftsleute aus dem Botschaftsumfeld quer durch die dunkle Schweiz. Das Hauptthema des Romans ist Toms Trauer um seine verstorbene Frau Nina. Regelmässig erscheint sie ihm als Geist, legt den Arm um ihn und will ihn ins Totenreich ziehen.

Aus der eigenen Lebensgeschichte

Tom Kummer schöpft den Stoff des Romans, der für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert ist, aus seiner eigenen Lebensgeschichte. Lange Zeit lebte er mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Söhnen in Los Angeles, wo er als Journalist arbeitete. Nachdem sie 2014 an Krebs gestorben war, kehrte er mit dem jüngeren Sohn in die Schweiz zurück. In seinem ersten autofiktionalen Roman «Nina&Tom» (2017) erzählte er ihre Liebes- und Abschiedsgeschichte, daran anknüpfend folgte nun ein Trauerbuch.

In einer Zeit, in der die Klimakrise, populistische Strömungen und Fake News für Unsicherheit sorgen, legt Kummer ein sehr intimes Buch vor, in dem das persönliche Erleben im Mittelpunkt steht. «Ich wollte diesen Zustand, der mich im Jahr nach Ninas Tod einnahm, in Sprache einfangen», sagt Kummer.

Obwohl ihm das Schreiben durchaus geholfen habe, zum Erlebten Distanz zu gewinnen, lag seine Motivation zu diesem Roman aber nicht etwa in der Trauerbewältigung. «Mein Ziel war, mein Erfahrungsmaterial in einer Geschichte zu verdichten und eine Meditation der Trauer zu schaffen.»

Dem Zustand der Trauer Raum zu geben, findet er für die heutige Zeit durchaus angezeigt. «Ich erzähle die Geschichte eines Vaters, der mit seiner toten Frau Kontakt aufzunehmen versucht, weil er glaubt, sonst nicht mehr existieren zu können.» Damit erzähle er auch von einer Gesellschaft, die das Trauern verlernt habe: «Trauern ist ein unproduktiver Zustand, den wir schnellstmöglich hinter uns lassen wollen oder sollen. Dabei hat die Trauer auch sehr gute Seiten, die einem helfen können», sagt er. «Mein Protagonist zelebriert die Melancholie geradezu und zeigt: Die Welt vorbeiziehen lassen und nur in sich selbst zu existieren, das kann die höchste Lebensfreude bedeuten.» Gerade in der Covid-Pandemie, die viele ratlos mache, könne diese Perspektive noch stärker wirken.

Das Leseerlebnis selbst

Kummer streift gesellschaftliche Themen, vertieft sie aber nicht. «Ich schreibe aus einer Lebensrealität heraus, in der diese Fragen präsent sind und deshalb klinge ich sie an», sagt er. «Ich sehe meine Aufgabe als Autor aber nicht darin, die Gegenwart zu kommentieren.»

Die Funktion der Literatur, so wird im Gespräch deutlich, liegt für ihn vielmehr im Leseerlebnis selbst. «Ich möchte mit meinen Texten Emotionen erzeugen, und meine Leserschaft in einen Fantasiezustand versetzen, der neue Erfahrungen ermöglicht», sagt er.

Im Gespräch raunt Kummer manchmal ein leises «Okay» in sich hinein, um eine Antwort abzuschliessen. Er wirkt konzentriert und formuliert präzise. Im Videotrailer, den er zu seinem Buch produziert hat, sagt er den Satz: «Textarbeit halte ich für die leidenschaftlichste Arbeit, die ein Mensch ausüben kann.» Darauf angesprochen, muss Kummer lachen. «Etwas pathetisch.»

Sound der Sprache

Wichtig sei ihm in diesem Satz das Wort Textarbeit: «Ich bin ein sehr formaler Schreiber. Mit Sprache einen Sound, einen Sog zu kreieren, ist für mich das Wesentlichste am Schreiben», sagt er. «Wenn es mir gelingt, meine Leserinnen und Leser mit meiner Sprache für ein Thema zu gewinnen, dann hören sie auch zu und lassen sich auf neue Gedanken ein.»

Zweifellos zieht einem die dichte Atmosphäre in «Von schlechten Eltern» rasch in ihren Bann. Wo Kummers Biografie aufhört und der fiktionale Tom beginnt, ist darin nicht immer klar. Das ist aber auch nicht wichtig. Ohnehin verschwimmen in der gespenstischen Zwischenwelt, die er erschafft, die Grenzen zwischen Realem und Märchenhaftem, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod.

Kummer arbeitet bereits an seinem dritten autofiktionalen Werk; danach möchte er sich anderen Stoffen zuwenden. Er zieht den Reissverschluss seiner schwarzen Jacke zu, schiebt eine Maske über die Nase und tritt hinaus in den Regen. Die Stadt scheint an diesem Montag Morgen fast so leer wie seine nächtliche Schattenwelt.*

*Dieser Text von Martina Kammermann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert

veröffentlicht: 6. November 2020 12:25
aktualisiert: 6. November 2020 12:30
Quelle: sda

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