Das weiss Ikea über unser Leben

· Online seit 04.09.2017, 07:05 Uhr
Die Neuauflage des «wichtigsten Buchs der Welt» ist da – der neue Ikea-Katalog 2018. Es bietet – neben dem kompletten Angebot des Möbel-Giganten – auch interessante Einblicke in unsere Träume. Eine Analyse.
Laurien Gschwend
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Stilpalast

Jeroen van Rooijen, NZZ Bellevue 

Ein Ikea-Katalog ist mehr als nur eine Verkaufsbroschüre. Denn die seit 1951 jährlich erscheinende Publikation ist mit 211 Millionen Auflage weltweit eines der auflagenstärksten Werke unserer Zeit. Vielleicht ein bisschen flapsig und riskant, so etwas zu sagen, aber: Mit dieser Verbreitung schlägt der Ikea-Katalog die Bibel und den Koran locker. Ausserdem ist er ein Spiegel unserer Zeit: Daraus, wie sich der schwedische Möbelgigant jedes Jahr darstellt, werden spätere Generationen eines Tages wertvolle Rückschlüsse über die Träume und gesellschaftliche Entwicklungen unserer Zeit ziehen können.

Quadratisch, praktisch, gut

Der neue Katalog ist vom Format her fast quadratisch und hat damit die Form, die er zwischen 1970 und 1975 bereits einmal hatte: Damals hatte Ikea nach 18 Jahren erstmals das Format geändert, von einem breiten Querformat zum Quadrat, danach setzte man bis 1992 auf das klassische 2:3-Hochformat, das die meisten Zeitschriften und Kataloge haben. Seit 1993 ist der Katalog graduell breiter, etwa im Verhältnis 3:4, seit 2015 hat er das heutige Blockformat.

«Mach Platz fürs Leben», lautet das deutschsprachige Motto des neuen Katalogs, der dieser Tage in die Haushalte flattert. Auf dem Cover sieht man ein grosses gelbes Sofa vor einer grün-weissen Wohnwand, neben der ein kleiner Wald von Zimmerpflanzen steht. Das üppige Grün ist neu: Zwar standen in den letzten Jahren immer wieder mal etwas Pflanzen in den Cover-Settings herum, aber nicht in dieser Menge. Ob das ein neuen Trend «nach drinnen» symbolisiert? Ausserdem sieht man ein dreifarbiges Bild mit der Botschaft «Love» – ob da vielleicht doch Papst Franziskus seine Finger im Spiel gehabt hat?

Multikulti und achtsam

Der Einstieg in den Katalog, wie immer im kollegialen «du» (klein) gehalten, ist eindringlich: «Geh in dich und überlege dir: Was ist es, was ich gerne mache?» Das Editorial regt an, einen Neuanfang zu wagen und die Leidenschaft neu zu entdecken. Könnte auch die Botschaft eines Seitensprung-Portals sein!

Auf die Idee, aus dem Ikea-Katalog gesellschaftlich-kulturelle Rückschlüsse zu ziehen, ist Ikea übrigens selbst schon gekommen, als die Firma 2015 den deutschen Literaturkritiker Hellmuth Karasek beauftragte, sich einmal in den aktuellen Katalog zu vertiefen (siehe Video).

Tatsächlich offenbart der neue Ikea-Katalog bei näherem Hinsehen so einiges. Zeitgeistgerecht sieht man nicht nur Möbel und Accessoires, sondern auch alle paar Seiten wieder symbolhafte Statisten, etwa eine junge Familie beim Musizieren (Auftakt zu den Wohnzimmern), eine Multikulti-Gruppe beim Feiern («Kleine Wohnung, grosse Party – oh ja, das geht») oder eine Zen-Meisterin bei einem Teeritual oder beim Kalligraphieren.

Natürlich trifft man auch bald auf das derzeit so wichtige Modewort der «Achtsamkeit». Und bereits auf Seite 29 sieht man eine Hipster-Frau mit grossem Pulli und blauen Haaren, die gerade ein Handyfoto für ihren Instagram-Feed macht («Bringe deine Persönlichkeit zum Ausdruck»). Man merkt: Das digitale Zeitalter ist im Wohnzimmer angekommen. Alle paar Seiten daddelt jemand auf dem Handy oder Tablet herum.

Yoga ist im neuen Ikea-Katalog auch dabei: Auf Seite 45 verrenkt sich eine Mutter im Flur, beobachtet von ihrem Baby («Dehn dich aus, in einem Raum, der so flexibel ist wie du»). Es geht um flexible Arbeitszeitmodelle («Lebe glücklich mit deinem Arbeitsplatz zusammen»). Und natürlich will auch der Megadiscounter ein bisschen vom hippen neuen Öko-Flair verbreiten: «Wohne schön, lebe nachhaltig» (Seite 53). Umfangreiche, im ganzen Katalog verteilte Reportagen zum Thema Nachhaltigkeit, Recycling und Ressourcenschonung bestätigen dieses Bemühen.

Porträts «aus dem Leben»

Neu ist der Katalog auch ein bisschen ein Magazin: Eingestreute Reportagen und Porträts stellen Menschen vor, die modellhaft leben, etwa die «Haute-Couture-Designerin» Maryam Mahdavi aus Paris. Modemenschen staunen, denn man kennt die Couturienne bisher kaum... Des Rätsels Lösung: Sie ist, wie ein Blick auf ihre Website zeigt, tatsächlich Interior Designer! Ob der darauf folgende Berliner Jungdesigner Josh wirklich existiert, ist noch schwerer zu eruieren, denn der coole Nomade hat von Ikea keinen Nachnamen bekommen. Hoffentlich ist er nicht nur ein Model!

Generell fällt im neuen Ikea-Katalog auf: Die Farbstimmung ist etwas düsterer. Man sieht viele dunkle Rückwände und Räume im Halbdunkel. Vielleicht eine Reflexion zum geopolitischen Klima der Hysterie und Muskelspiele, wie es seit Anfang 2017 herrscht? Könnte es sein, dass der derzeit omnipräsente US-Präsident auch hier seine Spuren hinterlässt? Zumindest der letzte Satz auf der Rückseite des eingehefteten Sonderangebote-Katalogs erinnert stark an den verhaltensgestörten Blonden mit vorübergehendem Wohnsitz in Washington: «Das ist ein guter Deal».

328 Seiten umfasst der neue Ikea-Katalog 2018, der bis zum 11. August 2018 Gültigkeit hat. Er wird im schwedischen Älmhult produziert und erscheint in über 30 Sprachen in 54 Ländern, die Gesamtauflage beträgt weltweit 210 Millionen Exemplare. Die meisten Seiten werden noch immer in Studios oder auf Location fotografiert, einiges aber auch als 3-D-Animation im Computer ersonnen. Sechs internationale Papierlieferanten und dreissig Druckereien teilen sich den Monsterauftrag. Es handelt sich um die grösste FSC-zertifizierte Druckproduktion, die es bisher gab. Und natürlich profitieren überall Post- und private Zustelldienste kräftig davon, dass Ikea diesen Aufwand macht. Die abgebildete Cover-Variante gibt es nicht.

Hier findest du eine Bildergalerie mit 15 Ikea-Katalogen aus 66 Jahren.

veröffentlicht: 4. September 2017 07:05
aktualisiert: 4. September 2017 07:05

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