Eigentlich wollte er nur mit Frau und Tochter in der Schweiz Heimaturlaub machen. Doch die Geschichte hatte anderes vor mit Ernst Prodolliet (1905-1984), wie die Grossnichte Simone Prodolliet in einem Bericht der Audiatur-Stiftung erzählt. Am 28. März 1938 beschloss der Bundesrat, die Visumspflicht für Österreicher und Österreicherinnen wieder einzuführen. Den Diplomaten Ernst (oder auch Ernest) Prodolliet schickte man nach Bregenz, um dort im Konsulat auszuhelfen, anstatt seine Arbeit in Amerika fortzusetzen.
Heimliche Grenzübertritte
Prodolliet lernte die Umgebung zwischen Österreich und der Schweiz in seinem Amt bestens kennen. Nachdem die Grenze gesperrt wurde, half er vielen Juden bei der Flucht. In der Zeit lernte er auch Paul Grüninger kennen. Mit ihm und ein paar anderen traf er sich heimlich, um Grenzübertritte von Verfolgten zu organisieren.
Sein Vorgesetzter war ob Prodolliets Tätigkeiten überhaupt nicht erfreut. In einem Schreiben an Bundesbern beklagte er sich nicht nur über die Tätigkeiten des Amriswilers, er machte auch seinem Ärger über Prodolliets Lebensstil Luft. Er beschrieb ihn als «temperamentvoll, selbsteingenommen und herrschsüchtig», und er habe eine «allzu weichherzige Ader». Seine politische Einstellung widerspreche der neutralen Haltung der Schweiz.
Humanitärer Einsatz direkt und auf Papier
Ende 1938 wurde er suspendiert. Prodolliet war rund acht Monate im Amt. In der Zeit ermöglichte er Dutzenden Juden unter teilweise abenteuerlichen Umständen die Flucht. Im April 1939 wurde er nach Amsterdam verlegt. Auch dort bewahrte er wahrscheinlich hunderte Juden vor einem grässlichen Schicksal, indem er Transitvisa in die Schweiz ausstellte.
«Bereits auf Transporte verfrachtete Menschen holte er aus den Zügen heraus und beschied den deutschen Ordnungsdiensten, es handle sich um Personen, die unter Schweizer Schutz stünden. Selbstbewusst, weltmännisch auftretend, um keine Ausrede verlegen», schreibt die Grossnichte.
Keine Karriere
Bis Ende des Krieges im Jahr 1945 war Prodolliet in verschiedenen europäischen Städten tätig. Das höchste Amt, das er je bekleidete, war lediglich jenes des Konsuls. Weitere Beförderungen wurden ihm wegen seiner früheren Aktivitäten verweigert. Kurz vor der Pensionierung hätte er doch noch Schweizer Botschafter in Madagaskar werden können, lehnte jedoch dankend ab.
Am 18. November 1983 wurde Ernst Prodolliet durch den Staat Israel als «einer der Gerechten» geehrt, eine Liste von nichtjüdischen Aktivisten, die sich für die Verfolgten während des Nazi-Regimes einsetzten. Etwas mehr als ein Jahr später starb er in einem Altersheim in Amriswil.
Widmung in Amriswil
Das Ortsmuseum Amriswil hat seine Geschichte und die seiner Frau Frieda (1901-1990) aufgearbeitet. Es widmet ihnen eine Sonderausstellung sowie eine Broschüre und ein Mahnmal mit Gedenktafel. Eröffnet wird die Ausstellung am Sonntag, 4. September 2016, mit einer Erzählstunde mit der Grossnichte Simone Prodolliet.
(lak)