Ukraine-Krieg

«Durchhaltevermögen der Ukraine ist eigentlich grossartig»

19.04.2022, 13:42 Uhr
· Online seit 19.04.2022, 13:32 Uhr
Seit rund zwei Monaten dauert der Krieg in der Ukraine nun schon an. Wie lief es bisher für die Russen und was ist in diesem Konflikt noch zu erwarten? Politexperte Erich Gysling zieht Bilanz.

Quelle: TeleZüri

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Erich Gysling (85) studierte in Wien Kulturgeschichte, war jahrelang als Journalist tätig und Mitbegründer der Sendung «Rundschau». TeleZüri hat den Politexperten getroffen und mit ihm über den seit zwei Monaten andauernden Krieg in der Ukraine gesprochen. Gysling zieht Bilanz und sieht Stärken bei der ukrainischen Armee, die Putin stark unterschätze.

Erich Gysling, was ziehen sie nach zwei Monaten Krieg in der Ukraine für eine Bilanz?

Das Durchhaltevermögen der Ukraine ist sehr respektabel. Es ist eigentlich grossartig. Auch die Opferbereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer ist sehr respektabel. Man sieht, dass es im Land nicht die Mentalitätsunterschiede gibt, die man anfänglich vermutet hat. Auch die Vermutung, dass es eine Spaltung gebe, ist nicht der Fall.

Zudem sind die technischen Fähigkeiten der ukrainischen Armee grösser als man meinte, die der russischen jedoch bedeutend geringer als gedacht. Die Russen haben eindeutig Probleme bei der Kommunikation, der Logistik und vielem mehr.

Wie wichtig ist die Hilfe, die die Ukraine vom Westen erhält?

Sehr wichtig. Es geht um Munition, es geht um Bewaffnung, es geht um Raketen die man zum abschiessen von russischen Panzern brauchen kann.

Für die Russen läuft es katastrophal. Wahrscheinlich sieht Putin ein, dass er nicht die ganze Ukraine besetzen kann. Was er machen kann, ist die Ausübung von Terror auf verschiedenste Städte, kreuz und quer.  Auf der russischen Seite gibt es viel mehr Todesopfer, als sie zugeben. Auch wenn es nur schon 15’000 Verluste wären, wäre diese Zahl sehr hoch im Vergleich zu dem, was Putin erwartete.

Läuft es für die Russen auch in Bezug auf den Landgewinn nicht wie erhofft? 

Beim Landgewinn sicherlich nicht. Sie haben sich ja wieder zurückgezogen. Wo sie zum Teil vorangekommen sind, ist im Süden rund um die Stadt Mariupol, die fürchterlich zerstört sein muss. Man geht davon aus, dass rund 70 Prozent der Häuser dort beschädigt wurden – teilweise schwer. Dort haben die Russen gewütet und können auch einen Terrorgewinn verbuchen. Aus Kiew und Charkiw haben sie sich wieder zurückgezogen. Sie schiessen jedoch mit Raketen in die erwähnten Ortschaften und das ist der Terror gegen die Zivilbevölkerung, den ich meine und was US-Präsident Joe Biden nicht zu Unrecht als Genozid bezeichnet.

Ist Mariupol exemplarisch für das, was noch auf die anderen Städte zukommen könnte?

Denkbar ist es, ja. Aber in Mariupol haben die russischen Streitkräfte den Vorteil, dass die Stadt gegenüber dem Meer und den Separatistengebiete im Osten exponiert ist.

Sie sind also auch noch weit davon entfernt, das ganze Land zu besetzen?

Ja, natürlich. Sie wollten auch Odessa vom schwarzen Meer aus besetzen, deshalb war die Moskwa, das Prestige-Schiff Russlands, in der Nähe und die Ukrainer konnten dieses versenken.

Ist die Versenkung dieses Schiffes ein Meilenstein für die Ukrainer?

Das ist vor allem ein Prestigeerfolg, aber auch ein militärischer. Die schwerbewaffnete Moskwa war das Leitschiff für andere russische Kriegsschiffe. Wenn die Ukrainer weiterhin so effizient sind, werden es die russischen Schiffe sehr schwer haben, sich der Gegend um Odessa zu nähern.

Demnach ein spezieller Moment in diesen zwei Monaten Krieg?

Absolut! Und für die russische Marine und die russischen Streitkräfte ist es ein ganz ganz schwerer Schlag.

Was ziehen sie rund um das Vorrücken und Zurückziehen aus der Region Kiew für eine Bilanz?

Rund um Kiew haben die Russen Terror ausgeübt, das kann man ganz eindeutig feststellen. Butscha als Beispiel mit sehr vielen Menschen die umgebracht worden sind. Wenn russische Truppen sich zurückziehen, ist das ein Schreckensszenario. Dann üben sie das aus, was wir ganz klar als Terror bezeichnen. Dann hinterlassen sie ganz ganz blutige Spuren.

Was ist der Grund für diesen Rückzug?

Russische Streitkräfte haben ein Kommunikationsproblem. Darum sind bis dato auch bereits acht russische Generäle umgekommen. Diese mussten sich mehr exponieren, als sie es sich selber vorgestellt haben.

Wie könnte man den aktuellen Kriegs-Zustand zusammenfassen?

Schwerste Zerstörung in zahlreichen Städten, sehr viele Todesopfer, russische Streitkräfte die ohne Rücksicht auf Verluste vorgehen, Wohngegenden zerstören und Raketen auf Wohngebiete schiessen. Aber auch eine sehr widerstandsfähige und widerstandswillige ukrainische Bevölkerung, die nicht kapitulieren will.

(roa)

veröffentlicht: 19. April 2022 13:32
aktualisiert: 19. April 2022 13:42
Quelle: Today-Zentralredaktion

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