Experte schätzt ein

«Ein Friedensabkommen wäre möglich – doch dann würde Russland belohnt»

12.08.2022, 13:48 Uhr
· Online seit 12.08.2022, 13:15 Uhr
Vier Tage war Russland-Experte Ulrich Schmid von der Hochschule St.Gallen (HSG) in der Ukraine, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Im Interview spricht er über berührende Erlebnisse mit Einheimischen, den Besuch eines Friedhofs – und über die Möglichkeit eines Kriegsendes.

Quelle: CH Media Video Unit / Melissa Schumacher

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Herr Schmid, wo genau waren Sie unterwegs?

Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität, das seit zehn Jahren läuft, waren in Transkarpatien, im äussersten Westen der Ukraine. Das ist jener Bereich des Landes, der bisher am wenigsten vom Krieg betroffen war. Es gab einmal einen Raketeneinschlag in ein Elektroverteilwerk, aber sonst ist Transkarpatien eher ein Ort, wo Binnenflüchtlinge aus dem Osten hingehen. Während unseres Besuchs haben wir viele verschiedene Menschen interviewt und gefragt, wie sie mit dem Krieg umgehen.

Wie ist die Lage momentan vor Ort?

Auf den ersten Blick erhält man den Eindruck, dass der Alltag ganz normal läuft. Die Leute gehen einkaufen, die Restaurants und Cafés sind gefüllt. Wenn man genauer hinschaut, realisiert man, dass praktisch nur Frauen und Kinder auf den Strassen zu sehen sind. Ebenfalls offensichtlich ist die prekäre Versorgungssituation, zum Beispiel mit Benzin. Auch die finanzielle Lage vieler Familien ist recht angespannt.

Erzählen Sie bitte von Ihren Begegnungen. Was hat sie besonders beeindruckt?

Auffällig ist der grosse Hass, den viele gegenüber Russland derzeit hegen – auf alles, was aus Russland kommt oder russisch ist. Ein ukrainischer Schriftsteller sagte uns, er werde alles dafür tun, dass seine Tochter nie in Berührung mit der russischen Sprache und Kultur komme. Das mag eine sehr radikale Einstellung sein, zeigt aber gut auf, wie die Menschen derzeit mit der Situation umgehen. Geblieben ist mir auch der Besuch eines Friedhofs mit 25 neuen Gräbern von gefallenen Soldaten.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihre Reise zurück?

Ich glaube, es war wichtig, dass ich dorthin gegangen bin. Dass ich darüber berichten und die Eindrücke in meiner Forschung verarbeiten kann. Auf der anderen Seite ist es auch bedrückend, zu sehen, wie Menschen in solch einer schwierigen Situation leben müssen.

Ist Ihrer Meinung ein Ende des Krieges in Sicht?

Leider nicht. Es sieht danach aus, dass beide Seiten weiterkämpfen wollen. Was in ein paar Monaten möglich wäre: Ein sogenannter Dayton-Frieden. Das Dayton-Abkommen im Jahre 1995 beendete damals den Krieg in Bosnien und Herzegowina. Der Nachteil war, dass die Aggressionen der bosnischen Serben dadurch belohnt wurden. Ich kann mir vorstellen, dass in der Ukraine Ähnliches passieren könnte. Wenn sich nun ein Friedensschluss ergibt, würde auch Russland belohnt werden, zum Beispiel mit ukrainischem Boden.

Glauben Sie, das wäre die beste Lösung?

Die beste Lösung wäre natürlich, wenn sich Russland zurückzieht. Unter Putin wird das aber nicht passieren. Eine gute Lösung gibt es nicht. Der Kampfwille der Ukrainer ist trotz der hohen Verluste aber nach wie vor ungebrochen. Deshalb nehme ich an, dass zumindest dies das Weiterbestehen dieses Krieges definieren wird.

(mhe)

veröffentlicht: 12. August 2022 13:15
aktualisiert: 12. August 2022 13:48
Quelle: Today-Zentralredaktion

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