Ukraine-Krieg

Erster Prozess wegen russischer Kriegsverbrechen startet

18.05.2022, 12:45 Uhr
· Online seit 18.05.2022, 12:23 Uhr
Erstmals seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine steht ein russischer Soldat wegen angeblicher Kriegsverbrechen vor Gericht. Der 21-Jährige soll einen unbewaffneten Zivilisten getötet haben. Doch was sind Kriegsverbrechen überhaupt und welche Gerichte sind dafür zuständig?
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Ein Gericht in Kiew soll noch diese Woche erstmals seit Ausbruch des Ukraine-Krieges einen möglichen Fall von «Kriegsverbrechen» untersuchen: Einem 21-jährigen russischen Soldaten wird vorgeworfen, kurz nach Kriegsausbruch einen 62-jährigen Zivilisten erschossen zu haben. Der Zivilist soll kurz davor gesehen haben, wie die russischen Soldaten ein Auto stahlen. Weil er demnach Zeuge war, soll ihn der der Soldat aus dem gestohlenen Auto erschossen haben, wie «Die Zeit» berichtet.

Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft ermittelt laut eigenen Angaben in knapp 11.000 Fällen mutmasslicher Kriegsverbrechen durch russische Truppen und hat bislang mehr als 600 Verdächtige identifiziert. Besonders viele dieser Fälle stammen aus der Region um Kiew, nachdem sich die russischen Truppen Anfang April aus der Region zurückgezogen hatten.

Einwohner von Städten wie Butscha oder Hostomel berichteten unter anderem von Mord, Brandstiftung, Vergewaltigung, Folter und Verstümmelungen. Diese Vorwürfe werden grossteils auch von Berichten von internationalen Menschenrechtsorganisationen gestützt. Doch was sind Kriegsverbrechen überhaupt und welche Gerichte sind dafür zuständig?

Wer ist für Kriegsverbrechen zuständig?

Grundsätzlich sind die Gerichte jenes Landes verantwortlich, in welchem das Verbrechen begangen worden ist. Aufgrund der dortigen Krisensituation kommt es aber oft zu keinem Prozess. Wenn die Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Straftaten zu folgen, greift in der Regel der Internationale Strafgerichthof ein. Hier wird es gleich um einiges komplizierter. Denn das Völkerstrafrecht – und damit Kriegsverbrechen – fällt unter das Weltrechtsprinzip, kennen demnach «keine Grenzen». Heisst: Auch Drittstaaten, die nicht involviert sind, könnten theoretisch einen Prozess wegen Kriegsverbrechen eröffnen. In der Praxis geschieht dies aber so gut wie nie.

Was macht der Internationale Strafgerichthof (IStGH)?

Der IStGH ist ein Strafgericht mit Sitz in Den Haag, das seit 2002 arbeitet und für 123 Staaten – also 60% der Staaten der Erde und 30% der Weltbevölkerung – zuständig ist. Er richtet nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichthofs aus dem Jahre 1998. Vor allem Völkerstrafrecht, namentlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen, werden vom IStGH untersucht.

Der IStGH kann jedoch eine Tat nur verfolgen, wenn eine Strafverfolgung des eigenen Landes nicht möglich oder staatlich nicht gewollt ist. Häufig kritisiert am IStGH wird die Tatsache, dass zwar 123 Vertragsstaaten ihn unterstützen, viele grosse Länder jedoch nicht Teil davon sind. So sind zwar alle Staaten der Europäischen Union vertreten, jedoch nicht Länder wie China, Indien, die Vereinigten Staaten, Russland, die Türkei oder Israel.

Was waren die aufsehenerregendsten Fälle des IStGH?

2008 stand vor dem IStGH erstmals ein amtierendes Staatsoberhaupt, namentlich Umar Ahmad al-Baschir, Staatschef des Sudans. Ihm wurde Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen. Die Verhandlungen laufen bis heute.

Im November 2019 nahm der IStGH infolge der Vertreibung der muslimischen Rohingya offizielle Untersuchungen in Myanmar auf wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ausserdem untersucht der IStGH seit Beginn des Krieges in der Ukraine auch hier mögliche Völkerrechtsverbrechen.

Kritik am IStGH

Kritiker werfen dem IStGH vor, dieser sei als Gerichtshof unbrauchbar, um begangene Massenverbrechen gerecht und effektiv zu bestrafen. Wichtig ist hier zu beachten: So wie der IStGH derzeit aufgebaut ist, kann er nationale Gericht beim Kampf gegen Kriegsverbrechen nur ergänzen, nicht ersetzen. Hinzu kommt, dass der IStGH keine Exekutivkraft – also keine Art Weltpolizei – hat, um Straftäter auch konkret zu verfolgen. Ohne Auslieferung von Seiten der einzelnen Staaten keine Verhaftung.

(baz)

veröffentlicht: 18. Mai 2022 12:23
aktualisiert: 18. Mai 2022 12:45
Quelle: Today-Zentralredaktion

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