Iran-Experte

«Europa hat Möglichkeiten, Proteste zu unterstützen und sollte diese nutzen»

08.10.2022, 07:46 Uhr
· Online seit 08.10.2022, 07:11 Uhr
Seit über 43 Jahren leiden Iranerinnen unter der Politik des Mullah-Regimes. Nun protestieren Frauen und Männer dagegen. Sie verbrennen Kopftücher, tanzen und werden von anderen Protestierenden bejubelt. Experte Hamid Hosravi schätzt die Situation ein. Er ist Dozent für persische Sprache und Literatur an der Universität Zürich.
Anzeige

Seit Wochen protestieren im Iran Menschen gegen Gewalt und Repression des Regimes. Bereits werden Parallelen zum Arabischen Frühling 2011 gezogen. Wie schätzen Sie diesen Vergleich ein?

Hamid Hosravi: Wie beim Arabischen Frühling richten sich die Proteste in Iran gegen die korrupte Regierung. Allerdings ist die Zusammensetzung der Protestierenden und Oppositionellen eine grundlegend andere. Beim Arabischen Frühling waren auch islamische und islamistische Gruppierungen Teile der Bewegung. In Iran richten sich die Proteste jedoch gegen das islamische Konzept als Ganzes. Gefordert wird ein säkularer Staat, der nicht von der Religion besetzt ist. Keiner in Iran hat noch die Illusion, dass eine religiöse Herrschaft gelingen könnte, da sie auf vier Jahrzehnte Scheitern zurückblicken.

Proteste gab es im Iran in den vergangenen Jahren immer wieder. Was ist an den aktuellen Protesten anders?

Die Proteste gehen jetzt von Frauen und jungen Menschen aus, selbst Jugendliche und Schüler beteiligen sich an Protesthandlungen und zerreissen etwa religiöse Bilder in den Schulbüchern. Die zentrale Parole «Frau, Leben, Freiheit» ist ein Zeichen, dass die Bewegung ein feministisches Bewusstsein zum Ausdruck bringt. Mittlerweile stellen auch Männer fest, dass ihre Freiheit erst durch die Freiheit der Frauen möglich sein wird. Diese Erkenntnis ist in Iran ganz neu.

Gibt es weitere Unterschiede?

Die Proteste passieren im ganzen Land gleichzeitig und sind ausgedehnt. Das macht die Kontrolle sehr schwierig. Früher konnte man die Schlagtruppen von einer Stadt zur anderen schicken, jetzt ist das nicht möglich. Seit den drei Wochen dauernden Protesten ist auch kein Nachlassen festzustellen. Die Kontinuität der Bewegung ist etwas Neues. Die Menschen leisten Widerstand und sind mutiger geworden. Die Angst aus den vorigen Protesten hat sich nun in blanke Wut gegen Polizei und Schlagtrupps gewandelt. Die Strahlkraft der Proteste über die Landesgrenzen hinaus und die Unterstützung durch Prominente weltweit ist in diesem Ausmass ebenfalls neu.

Was fordern die Menschen im Iran? Welche Rolle spielen die Iranerinnen? 

Die Menschen in Iran fordern ein Land, in dem sie ihre Meinung frei äussern können, ihre Kleidung selbst auswählen können und friedlich untereinander und mit anderen Menschen in der Welt leben können. Die iranischen Frauen sind an vorderster Front dabei, da sie doppelt unterdrückt sind: als Bürgerinnen eines totalitären Staates und als Frauen, die einem rückständigen Gesetz unterworfen sind.

Welche Rolle spielt die Religion?

Die Religion spielt keine Rolle. Sie steht für das unterdrückerische Regime und den Ausverkauf des Landes. Das iranische Regime mit seiner schiitischen Achse von Iran bis Libanon nimmt für sich in Anspruch für die Schiiten in dieser Region zu sprechen, interessiert sich jedoch nicht für die Anliegen der eigenen Bevölkerung und das nationale Interesse Irans.

Beobachter sagen, die bislang wirksame Barriere der Angst durch das Regime in Teheran sei gebrochen. Sehen Sie das auch so?

Es mag sein, dass das Regime die Proteste temporär unterdrücken kann. Allerdings ist eine Hemmschwelle gefallen und die Proteste werden immer wieder aufflammen. Die Menschen sind mutiger geworden, ihre Parolen richten sich direkt gegen die religiösen Führer und die Staatsführung. Die Proteste bringen eine so grundlegende und prinzipielle Ablehnung des Regimes zum Ausdruck, dass diese durch keine Versprechen oder Zugeständnis oder leichte Reformen abgemildert werden könnte. Der kleinste Rückzug des Regimes, die geringste Reform wird eine Folge unvorhergesehener Ereignisse auslösen und das Regime wie eine Lawine unter sich begraben. Die Menschen haben nichts mehr zu verlieren.

Welche innenpolitischen Faktoren wirken auf den Verlauf der Proteste ein?

Wirtschaftlich liegt der Iran am Boden, nicht nur wegen der Sanktionen, sondern wegen verfehlter oder fehlender ökonomischer Planung. Vetternwirtschaft, Korruption und Veruntreuung kommen in ungeahntem Ausmass hinzu. Die Iraner haben kein Vertrauen in ihr Regime, man kann sogar behaupten, dass das Regime wie ein Fremdkörper ist, mit dem sich die meisten Menschen in Iran nicht identifizieren können.

Wie siehts in der Aussenpolitik aus?

Wegen der weltpolitischen Lage haben Europa und die USA kein ernstzunehmendes Interesse, die Protestbewegung aktiv zu unterstützen und wegen des bevorstehenden Atomdeals wird Iran vermutlich die eingefrorenen Gelder zurückbekommen, die dann direkt in die Unterdrückungsmaschinerie fliessen. Nicht zuletzt weiss der herrschende schiitische Klerus in Iran, dass ein Sturz des Regimes seinen endgültigen Untergang bedeuten wird.

Sollte Europa die Proteste unterstützen? In welcher Form könnte dies geschehen?

Die Iraner brauchen mehr denn je Solidarität und reale Unterstützung aus dem Westen. Leere Worte schützen das Leben der jungen Demonstranten nicht und erinnern zu sehr an die Grüne Bewegung, die von der damaligen US-Regierung unter Obama im Stich gelassen wurde, wie der Ex-Präsident selbst in seinem Memoiren schreibt.

Wie soll die Unterstützung aussehen?

Europa hat einige Möglichkeiten, die Proteste zu unterstützen und sollte diese nutzen. Sanktionen, gezielt gegen die Akteure der Staatsklasse, sind ein Anfang. Ausserdem müssen Möglichkeiten geschaffen werden, den Internetzugang in Iran trotz der Drosselung zu sichern.

Gegen wen sollten diese Sanktionen gehen?

Die Angehörigen vieler Politiker und Mullahs in Iran leben im Westen. Neulich hat ein iranischer Parlamentsabgeordneter von 5400 solcher Familien erzählt, deren Kinder in Europa oder Amerika in Freiheit leben. Viele davon sind regimetreu, die im Internet die Protestbewegung zu sabotieren suchen. Ich glaube, es wäre ein empfindlicher Schlag für das iranische Regime, wenn diese in ihrer Reisefreiheit und dem Geldtransfer eingeschränkt würden. Bei den russischen Oligarchen war das möglich, das sollte hier auch gelingen.

Was denken Sie: Wie wird sich die Situation weiterentwickeln?

Kurzfristig wird es dem Regime vielleicht gelingen, die Protestaktionen einzudämmen, indem es Schauprozesse, Entführungen und Inhaftierungen vornimmt. Damit sind die Proteste jedoch noch lange nicht niedergeschlagen: Die Ideen und Hoffnungen bleiben und werden sich bei der nächsten Gelegenheit wieder in Protesten äussern. Hier ist es wichtig, wie weit und wie aktiv die Solidarität der Weltgemeinschaft und der westlichen Staaten reicht.

Welche Schlüsse können Sie bereits jetzt aus den Protesten ziehen?

Eins ist sicher. Neben einem neuen Bewusstsein und landesweiter Solidarität zwischen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, gibt es noch eine positive Folge dieser Proteste: Das Verschwinden der Mullahs aus dem Strassenbild in Iran, da sie sich aus Angst lieber zu Hause verkriechen.

Quelle: CH Media Video Unit / Melissa Schumacher / 1. Oktober 2022

(osc/log)

veröffentlicht: 8. Oktober 2022 07:11
aktualisiert: 8. Oktober 2022 07:46
Quelle: Today-Zentralredaktion

Anzeige
Anzeige