«Vor fünfundsiebzig Jahren erlebte diese Nation die endgültige Zerstörung des Ghettos von Vilnius; in diesem Ereignis gipfelte die Vernichtung Tausender von Juden», sagte der Pontifex zuvor bei einer Messe in der Stadt Kaunas.
Er mahnte, «rechtzeitig ein neues Aufkeimen solch verderblicher Haltung» zu erkennen und von allem, «was die Herzen der Generationen verführt, die diese Zeit nicht erlebt haben und die manchmal versucht sind, solchem Sirenengesang nachzulaufen».
Vor genau 75 Jahren - am 23. September 1943 - hatten die deutschen Besatzer das letzte der beiden jüdischen Ghettos in der Altstadt von Vilnius geräumt. Die Bewohner, die nicht schon zuvor in nationalsozialistische Vernichtungslager transportiert worden waren, wurden deportiert oder erschossen. Während der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 ermordeten die Nationalsozialisten und die einheimischen Helfer mehr als 90 Prozent aller damals rund 200'000 in Litauen lebenden Juden.
Anschliessend besuchte der Pontifex das Museum in der ehemaligen Zentrale des Geheimdienstes KGB, das zeitweise auch die Gestapo und der NS-Geheimdienst SD nutzte. Dabei besichtigte das Katholiken-Oberhaupt Folterzellen und den Exekutionsraum. Begleitet wurde der Papst vom Priester Sigitas Tamkevicius, der selbst in dem Gebäude einsass und in Litauen als eine Symbolfigur für den kirchlichen Widerstand gegen die Sowjet-Herrschaft gilt.
«Litauer und Menschen verschiedener Nationen haben am eigenen Leib den Grössenwahn derer erlitten, die sich anmassten, alles zu kontrollieren», hiess es in seinem Gebet. «Möge dein Schrei, Herr, uns von der geistigen Krankheit befreien, vor der wir als Volk nie sicher sind: unsere Väter, das Erlebte und Erlittene zu vergessen.» Die Menschen sollten nicht «den vereinfachenden Parolen» verfallen.
Am Samstag hatte Papst Franziskus Forderungen nach der Ausgrenzung Fremder scharf verurteilt. Überall in der Welt würden derzeit Stimmen lauter, «die Spaltung und Konfrontation säen», warnte er in einer Rede vor dem Präsidentenpalast in Vilnius. Solchen Forderungen müssten «Toleranz, Gastfreundschaft, Respekt und Solidarität» entgegengestellt werden.
Der Papst kritisierte in seiner Rede Versuche, «andere Kulturen zu beseitigen, auszulöschen oder wegzudrängen». Er kritisierte all jene, die solche populistischen Forderungen mit der «Sicherheit und dem Fortbestand» der eigenen Kultur rechtfertigten. Dafür würden oft «Unsicherheit und Konflikte instrumentalisiert».
Die Adressaten seiner Kritik nannte Franziskus nicht beim Namen. Die Botschaft dürfte sich aber auch an die Staaten der sogenannten Visegrad-Gruppe in der EU richten, welche die Aufnahme von Flüchtlingen grundsätzlich ablehnen: Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei.
Am Montag reist Franziskus weiter nach Lettland. Mit einem Besuch in Estland endet die Reise am Dienstag.