Interview

«Russland stellte sich einen Blitzkrieg vor» – HSG-Russlandexperte Ulrich Schmid über das Ende des Krieges

· Online seit 16.03.2022, 06:02 Uhr
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Hochschule St.Gallen. Im Interview beantwortet er Fragen zum Ende des Krieges, zum Privileg der Schweizer Bevölkerung und zur Zukunft unseres Zusammenlebens.

Quelle: FM1Today/Tobias Lenherr/Tim Allenspach

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Ein Berater der ukrainischen Regierung behauptet, der Krieg könnte im Mai bereits vorüber sein. Wie beurteilen Sie das? 
Ulrich Schmid: Das ist im Moment Spekulation. «Kriegsende» ist wohl ebenfalls zu hoch gegriffen. Wahrscheinlich meint er einen Waffenstillstand. Dieser muss erst zwischen den beiden Seiten ausgehandelt werden. Voraussetzung für einen solchen Waffenstillstand ist natürlich, dass der Leidensdruck auf beiden Seiten gross genug ist, sodass es zu einer Einwilligung kommen kann.

Das heisst, der Krieg ist höchstwahrscheinlich im Mai noch nicht vorüber. Wie lange würde ein möglicher Waffenstillstand dauern? Und wie ginge es nach einem solchen weiter?
Die Positionen liegen so weit auseinander, dass die ukrainische Seite Gefahr läuft, als Verräter bezeichnet zu werden. Es wird zu einer temporären Lösung kommen: Ein Waffenstillstand, der entweder befristet oder unbefristet ist. Für Russland hat sich das beste Szenario als illusorisch erwiesen: Sie stellten sich einen «Blitzkrieg» vor, in welchem die ukrainische Bevölkerung die russischen «Befreier» jubelnd empfängt. Das zweitbeste Szenario hat man in den letzten acht Jahren im Donbass gesehen: Ein schwelender Konflikt, der das Land, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lähmt.

Wie lange könnte ein solcher Waffenstillstand im besten oder im schlimmsten Fall dauern?
Das ist sehr schwierig zu sagen. Aus russischer Sicht hat der Waffenstillstand den Vorteil, dass die Soldatinnen und Soldaten im Land bleiben und dieses weiter destabilisieren können. Ein Friedensschluss müsste einen Abzug der russischen Truppen zur Folge haben. Im Moment sehe ich nicht, wie sich die Russen auf so etwas verständigen könnten.

Wie lange dauert dieser Konflikt noch, so wie wir ihn bis jetzt kennen?
Auch das ist sehr schwierig zu sagen. Man muss viele Vorannahmen machen und in Szenarien denken. Zum Beispiel: Bleibt das System Putin so, wie es ist? Gibt es eine russische Elitenflucht? Gibt es eine Unzufriedenheit im Volk? Wird Putin gezwungen, auf die Stimmung im eigenen Land Rücksicht zu nehmen? Daher denke ich, dieser Krieg könnte noch Monate oder sogar Jahre dauern. Es sind sehr viele Faktoren im Spiel, die man heute noch nicht absehen kann.

Wie sehen Sie die Zukunft der ukrainischen Flüchtenden hier in der Schweiz? Welche Voraussetzungen müssten gegeben sein, damit diese wieder zurück in ihre Heimat könnten?
Flüchtende bräuchten natürlich eine nachhaltige Friedenslösung. Momentan sind die Grundlagen der Politik und der Wirtschaft zerstört. Viele können nicht mehr an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, die Versorgung ist zusammengebrochen. Das heisst also: Wenn nicht schnell wieder eine Friedensordnung hergestellt wird, dann ist eine zeitnahe Rückkehr der Flüchtenden nicht realistisch. Was man dabei nicht unterschätzen sollte: Viele dieser Ukrainerinnen und Ukrainer sind Patrioten. Das heisst, sie wollen ihr Land wieder aufbauen. Eine Nachkriegslösung könnte auf Kompetenzen aufbauen, die sich diese Flüchtenden hier im Westen geholt haben. Wir müssen aber davon ausgehen, dass es auch für die Ukraine einen Marshall-Plan (s. Infobox) brauchen wird, um das Land wieder aufzubauen und den Flüchtenden eine Rückkehr zu ermöglichen.

Was müsste geschehen, damit in der Ukraine wieder ein normales Leben herrschen kann?
Ein Abzug des russischen Militärs. Das ist allerdings sehr schwierig. Die russische Seite wird sich nicht zurückziehen, wenn sie dabei das Gesicht verliert. Das wäre im Moment der Fall, denn aktuell steht Russland als Aggressor da, der einfach eine riesige Zerstörung angerichtet hat.

Kann man den Ukraine-Krieg und die damit verbundene Flüchtlingssituation mit anderen Kriegen vergleichen?
Der Syrien-Krieg ist die grösste Flüchtlingskatastrophe der letzten zehn Jahre. Dort ist nach wie vor keine Lösung absehbar. Millionen stecken noch immer in der Türkei fest. Dort herrscht ein sehr brüchiger Waffenstillstand im Land. In der Ukraine stelle ich einen ähnlichen Zustand fest. Ein Ende ist im Moment nicht absehbar.

Viele Menschen in der Schweiz möchten Flüchtende aufnehmen. Doch das sind keine Feriengäste. Was muss man hierbei beachten?
Ich bin überwältigt von der Solidarität in unserem Land. Viele Menschen, auch aus meinem Bekannten- und Freundeskreis, nehmen ukrainische Flüchtende auf. Dabei sind schon viele Freundschaften entstanden. Das sind häufig auch Leute mit wichtigen Qualifikationen. Ich finde es richtig und wichtig, dass wir diesen Menschen in der Schweiz eine Chance bieten.

Glauben Sie, diese Solidarität ist nachhaltig?
Ich hoffe es! Ich denke, es ist wichtig, dass man sich auch mit dem Schicksal dieser Menschen identifizieren kann. Sie sind ja nicht schuld daran, dass sie vor dem Krieg Zuflucht suchen mussten. Vielleicht denken auch die einen oder anderen Schweizerinnen und Schweizer jetzt darüber nach, wie privilegiert wir eigentlich sind. Wir, in einem Land, das seit 170 Jahren keinen Krieg mehr hatte.

Das Interview führte TVO-Reporter Tobias Lenherr.

(saz)

veröffentlicht: 16. März 2022 06:02
aktualisiert: 16. März 2022 06:02
Quelle: FM1Today

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