Weshalb Wikipedia streikt

21.03.2019, 05:41 Uhr
· Online seit 21.03.2019, 05:36 Uhr
Die EU will neue Regeln fürs Internet einführen. Während die eine Seite dies als grossen Sieg für ein stärkeres Copyright feiert, spricht die andere Seite vom «Ende des offenen Internets». Wir erklären dir den «Artikel 13».
René Rödiger
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Die EU will das Urheberrecht reformieren. Besonders umstritten ist dabei der «Artikel 13». Doch bringt er wirklich das «Ende des offenen Internets»? Das behaupten zumindest die Gegner. Sie befürchten, dass das Internet mit seiner ungefilterten Kommunikation der Vergangenheit angehören würde. Wikipedia hat aus Protest  heute Donnerstag sogar die Seite vom Netz genommen. Die Befürworter hingegen glauben, dass das Gesetz den Urhebern und Künstlern mehr Rechte gegen Missbrauch gibt. Sie hoffen, dass sie von den grössten Internetplattformen endlich gerecht bezahlt werden.

Der «Artikel 13» ist äusserst komplex. Im über 1000 Wörter umfassenden Vorschlag geht es um Verantwortlichkeiten, um Lizenzierungen, um Wiedergutmachung und um das Zusammenspiel zwischen den Rechteinhabern und den Internetplattformen.

Das will «Artikel 13»

Der Gesetzesentwurf sieht den umfassenden Schutz geistigen Eigentums vor. Dazu zählen zum Beispiel Videos, Bilder und Musik, aber auch Sachen wie Schriften, Architektur und Choreographien.

Alle Firmen, mit Ausnahme der ganz kleinen und Start-Ups, die jünger als drei Jahre sind, die Inhalte bereit stellen und bewerben oder die aus «grossen Mengen von fremden Inhalten Profit machen», wären von «Artikel 13» betroffen. Hier gibt es jedoch bereits Unklarheiten. Was bedeutet genau «bereit stellen» oder ab wann spricht man von «grossen Mengen»? Darüber müssten wohl die Gerichte entscheiden, es entsteht grosse Rechtsunsicherheit. Klar ist einzig: Betroffen wären nicht nur Google oder Facebook.

Was wird es nicht mehr geben?

Die EU hat in all den strengen Gesetzen auch immer Ausnahmen vorgesehen. So auch beim «Artikel 13». Geschütztes Material dürfte noch immer für den privaten Gebrauch, für Bildungszwecke oder für Parodien genutzt werden. Wie die Internetfirmen verhindern sollen, dass geschütztes Material auf ihren Seiten landen, wird nicht definiert. Am offensichtlichsten sind sogenannte Upload-Filter. Diese sollen erkennen, ob der Inhalt erlaubt oder nicht ist. Dass ein Filter jedoch Ausnahmen erkennt, ist Wunschdenken. Somit werden die Ausnahmen zur Makulatur.

Ausserdem gibt es in den Ländern der EU kein homogenes Recht. Macht man zum Beispiel ein Foto eines Gebäudes eines berühmten Architekten, müsste das Bild in Frankreich oder Italien blockiert werden, hier gibt es keine sogenannte Panoramafreiheit. Das Copyright des Architekten würde verletzt werden. Anders in Österreich oder Grossbritannien, wo dies keine Verletzung des Urheberrechts bedeutet.

Kritiker des «Artikel 13» befürchten, dass die Internetplattformen aus Bequemlichkeit gleich alles blocken und keine regionalen Unterschiede machen. So vermeiden sie jegliche Rechtsstreite und Risiken.

Wie soll Kunst geschützt werden?

Dass Künstler besser vor Copyright-Verletzungen geschützt werden müssen, sind sich alle Seiten einig. Aber wo beginnt die Illegalität? Darf man gar nicht mehr zitieren? Keine klitzekleinen Ausschnitte von Werken mehr bringen? Werden Memes der Vergangenheit angehören?

Das zweite Problem ist die Lizenzierung. Youtube bezahlt zum Beispiel die Rechteinhaber pauschal und kann so länderübergreifend Inhalte bereitstellen. Aber was passiert, wenn jemand keine gesamteuropäische Lizenzen verkaufen kann, da unterschiedliche Rechteinhaber involviert sind? Das Werk würde nicht mehr im Internet auftauchen und wäre damit praktisch inexistent.

Gerade kleinere Firmen oder Websites mit eigenen Foren könnten sich keine Lizenzen leisten und müssten schliessen. Gemäss geplantem Urheberrechtsgesetz müssen die Plattformen «so gut wie möglich» jeglichen Upload von geschütztem Material verhindern. Was das genau bedeutet, wird nicht weiter ausgeführt.

Wer profitiert vom «Artikel 13»?

Um die Frage nach den Profiteuren zu beantworten, muss man sich nur fragen, wer sich lange Rechtsstreits und hohe Kosten für die Lizenzierung leisten kann. Google und Facebook? Natürlich bekämpfen diese Firmen den «Artikel 13», sollte er jedoch in Kraft gesetzt werden, hätten sie die kleinsten Probleme damit.

Auf Künstler-Seite werden sich Gräben auftun. Die unabhängigen Kleinkünstler werden kaum in allen Ländern Europas ihre Rechte geltend machen können. Von der Urheberrechtsreform profitieren die grossen Vertriebsfirmen. Deshalb setzten sich an vorderster Front auch Labels wie Universal Music Group und Warner Music Group für den «Artikel 13» ein.

Auch wenn Künstler und Urheber auf den ersten Blick profitieren, dürften die grossen Internet-Plattformen am längern Hebel sitzen. Sie haben genügend Geld in der Kriegskasse, um vor Gericht zu gehen. Sie können ein Quasi-Monopol aufbauen und die Künstler haben auf lange Sicht das Nachsehen.

Wird «Artikel 13» in Kraft gesetzt, verlieren die Künstler den direkten Draht zu ihrem Publikum. Wollen sie Aufmerksamkeit, müssen sie sich einem grossen Rechtevertreter anschliessen, der wiederum Lizenzen des Werks an die grossen US-Firmen verkauft. Diese Firmen werden Bedingungen setzen. Sind die Künstler oder ihre Rechtevertreter damit nicht einverstanden, findet das Kunstwerk im Internet nicht statt.

Selbst-Zensur statt Rechtsverletzungen

Ein Internet-User wird sich künftig zweimal überlegen, ob er ein lustiges Meme auf Facebook laden will. Keine Privatperson will sich auf einen Rechtsstreit mit Instagram oder einer grossen Verwertungsgesellschaft und einem Künstler einlassen.

Wir müssten künftig selbst rausfinden, was überhaupt erlaubt ist und was nicht. Die Folge wäre eine Selbst-Zensur, wir würden uns online immer mehr in vorauseilendem Gehorsam einschränken.

Niemand kann zufrieden sein

Kritiker meinen, dass die grössten Anbieter mehr Geld an Künstler und Urheber geben sollten. Google, Facebook und Co. sollten vermehrt die Rechte der Künstler schützen und sie auch fair bezahlen. Gerade unabhängige Künstler sollten es einfacher haben, ihre Werke einem breiten Publikum zugänglich zu machen und dafür auch entlohnt werden.

In der jetzigen Form des revidierten Urheberrechtsgesetzes der EU werden die Rechteinhaber ungleich gestärkt, während die Künstler, Urheber und User geschwächt werden. Die grossen Internetfirmen bestimmen die Regeln. Die Rechtsunsicherheit schafft mehr Chaos. Es kommt zu einem Szenario, das für keine Seite wirklich zufriedenstellend sein kann.

Wie geht es weiter?

Bereits im September 2018 hat das EU-Parlament in einer ersten Abstimmung der Urheberrechtsreform zugestimmt. Danach musste eine Einigung zwischen dem EU-Parlament, dem EU-Rat und der EU-Kommission gefunden werden. Dies geschah im Februar 2019.

Jetzt kommt es voraussichtlich im März oder April zur Schlussabstimmung im EU-Parlament. Sollte die Urheberrechtsreform hier durchkommen, haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit, den Beschluss in ihre Gesetze einzuarbeiten.

veröffentlicht: 21. März 2019 05:36
aktualisiert: 21. März 2019 05:41

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