Ein halbes Leben lang Totengräber

27.03.2017, 09:05 Uhr
· Online seit 27.03.2017, 06:04 Uhr
Für Herbert Nafzger aus Romanshorn ist der Tod alltäglich, sein Arbeitsplatz der Friedhof. Vor 50 Jahren hat sein Vater den Job als Totengräber übernommen. Ein halbes Jahrhundert sind die Nafzgers nun schon Bestatter und haben «die Hälfte der Stadt Romanshorn beerdigt». Trotz viel Tränen und Trauer hat das Leben als Totengräber auch schöne Seiten.
Lara Abderhalden
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Herbert Nafzger steht mit gefalteten Händen vor einem hergerichteten Tisch. Er schaut auf den Blumenstrauss, der auf dem Tisch liegt. Wirkt nachdenklich. «Normalerweise steht auf diesem Tisch die Urne. Die Trauergemeinschaft steht mir gegenüber. Ich bitte sie jeweils, ein bisschen näher zu kommen.»

Der Pfarrer spreche dann die letzten Worte und die Trauergemeinschaft gehe in die Kirche zum Gottesdienst. «Ich nehme dann die Urne und vergrabe sie in der Erde, anschliessend platziere ich die Blumen und das Kreuz.» Er ist eingespielt, weiss, dass die Glocken sieben Minuten lang läuten, weiss, wo wer begaben ist. «Erst heute hat mich eine ältere Frau nach einem Grab gefragt. Da ich auch die Grabpflege mache, kenne ich ziemlich jedes Grab.»

Mit 19 das erste Grab gebuddelt

Kein Wunder, bereits seit bald 38 Jahren ist Herbert Nafzger als Bestatter tätig. Die erste Konfrontation mit dem Tod hatte der heute 57-Jährige als kleiner Junge. Er kann sich noch gut daran erinnern: «Meine allererste Bestattung war die von Onkel Karl. Er war der Vorgänger und Chef meines Vaters. Ich habe ihn hier in Romanshorn im Leichenschauhäuschen gesehen und weiss auch heute noch genau, wo er liegt.»

Im Alter von 19 Jahren sei sein Vater das erste Mal auf ihn zu gekommen: «Ich habe eine Gärtnerlehre gemacht. Nach der Lehre sagte mein Vater eines Tages: ‹Wir haben einen Todesfall, komm mit mir auf den Friedhof.› Er drückte mir Schaufel und Spachtel in die Hand und sagte, dass ich jetzt graben müsse.»

Dies habe er dann auch getan. Am Anfang sei es schon noch ein bisschen komisch gewesen: «Früher hat man das Grab noch von Hand geschaufelt. Man war da teilweise bis zu vier Stunden in einem Grab, umgeben von einem grossen Erdhaufen. Da hatte man viel Zeit, nachzudenken, wer um einem herum unter der Erde liegt. Man wächst in diesen Beruf hinein.»

Eigenen Vater begraben

Herbert Nafzger nähert sich einem Grab, faltet erneut die Hände und schaut zu Boden. «Walter Nafzger», steht auf dem Grabstein. Sein Vater. «Ich komme jede Woche zu diesem Grab. Meine Mutter sagt mir immer, welche Blumen ich pflanzen soll und der Junge hört natürlich auf seine Mutter.»

Er selbst habe seinen Vater bestattet. «Das gehört halt auch dazu. Natürlich ist es der eigene Vater, aber es ist halt unsere Aufgabe. Man versucht, die Emotionen möglichst klein zu halten.»

Doch wie kann man das? Wie kann der Beruf als Totengräber befriedigend sein, wenn man die ganze Zeit mit dem Tod und Trauernden konfrontiert wird? «Die Abdankung ist nicht immer traurig. Es gibt auch schöne, glückliche Abschiede. Dann beispielsweise, wenn jemand 80 oder 90 wurde und sein Leben gelebt hat. Dann ist es einfach eine schöne Feier, bei der die Angehörigen Freude haben. Ich habe dann das Gefühl, meine Aufgabe erfüllt zu haben.»

«Man kommt zur Welt, lebt und stirbt»

Zwar ist der Tod für Herbert Nafzger alltäglich, dennoch ist jede Abdankung anders: «Ich kann mich noch gut an eine Abdankung erinnern, da kam eine ältere Frau im Rollstuhl. Es regnete wie wild und sie sagte mir, sie sehe nichts, weil ihre Brille nass sei. Ich habe dann die Trauergemeinschaft gefragt, ob nicht jemand ein Taschentuch für die Frau hätte und putzte ihr die Brillengläser.» Ein anderes Mal sei eine Frau während der Beisetzung umgekippt. «Da hatten wir plötzlich das 144 an der Beerdigung. Das gibt es halt auch.»

Angst vor dem Tod hat der Bestatter keine: «Vielleicht ticke ich da etwas anders als die meisten, aber in Romanshorn gibt es pro Jahr rund 100 Todesfälle. Das heisst, ich trage pro Woche zwei Menschen zu Grabe. Man denkt irgendwann nicht mehr so oft über den Tod nach. Er ist naturgegeben: Man kommt zur Welt, lebt und stirbt.»

Leute kennen den Nafzger

Dennoch kann Herbert Nafzger verstehen, dass für viele Menschen der Tod ein schwieriges Thema ist: «Die meisten erleben einen bis zwei Todesfälle im Leben.» Für ihn gehöre es dazu. Er selbst kennt die meisten, die bei ihm begraben wurden. Dies stört ihn aber nicht unbedingt: «Die Leute wissen, dass ein Nafzger am Werk ist. Sie wissen, ich mache das schon lange, man kennt mich.» Dadurch würden die Leute zu Lebzeiten auch immer wieder Wünsche äussern oder ihn um eine anständige Bestattung bitten.

Nicht wie die Serie

Es bläst ein kühler Wind durch die grauen Grabsteine. Das Kies knirscht unter Herbert Nafzgers Füssen, Blätter wirbeln im Wind und die dicke Wolkenschicht lässt der Sonne keine Chance. Es ist gruselig. «Die Leute schauen einfach zu viele Horrorfilme und entwickeln ein Kopfkino», sagt der Bestatter schmunzelnd. Für ihn habe der Friedhof absolut nichts Gruseliges.

Viele haben die falschen Vorstellungen. Dies gelte auch für seinen Beruf: «Ich habe einmal die Serie ‹Der Bestatter› gesehen», erzählt er und grinst. «Das war alles andere als die Realität.» In der Realität komme es nie vor, dass man beispielsweise plötzlich zwei Leichen in einem Sarg hat oder einer Leiche die Hüfte fehlt. «Der Beruf des Bestatters ist ein seriöser. Er muss lückenlos sein. Wir müssen den Angehörigen garantieren können, dass es sich bei der Asche in der Urne wirklich um die der Mutter oder die des Vaters handelt.»

Herbert Nafzger hebt eine Giesskanne auf. Er hat erst letzte Woche neue Blumen angepflanzt. Die Grabpflege ist eine seiner liebsten Aufgaben, denn sie erinnert ihn an den Kreislauf des Lebens: «Blumen werden gepflanzt, sterben, neue Blumen entstehen.»

veröffentlicht: 27. März 2017 06:04
aktualisiert: 27. März 2017 09:05

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