Laut dem Seco-Chefökonom hat die Schweiz zu wenig Mut für Reformen

20.08.2017, 12:52 Uhr
· Online seit 20.08.2017, 11:54 Uhr
Der Chefökonom im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Eric Scheidegger, hat in einem Interview den Reformstau in der Schweizer Politik beklagt. Seit den 1990er-Jahren habe es keine nennenswerten Reformen mehr geben.
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Nach dem Nein zum EWR-Beitritt 1992 sei die Schweiz in eine lange Stagnation mit hoher Arbeitslosigkeit gefallen. «In dieser Not wurden damals unter dem Stichwort ‹Revitalisierung› grosse Reformen aufgegleist und durchgezogen: ein neues Kartellrecht, die Öffnung des Binnenmarktes, Revision der Arbeitslosenversicherung, Teilprivatisierung der Swisscom. Es war unsere letzte grosse Reformwelle», sagte Scheidegger im Interview mit der «NZZ am Sonntag».

Echter Wandel brauche hierzulande ohnehin mehr Zeit als anderswo, und es fehle an Mut zu weitsichtigen Reformen. In diese Kritik schliesst der Leiter der Abteilung für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft auch die Energiestrategie und die aktuelle AHV-Reform ein. Letztere beinhalte so viele Kompromisse, dass schon bald eine neue Reform fällig werde.

Dringend ist laut Scheidegger noch mehr Wettbewerb im Binnenmarkt sowie eine weitere Öffnung in der Agrarpolitik. Zeige sich die Schweiz nicht reformwilliger, drohe «eine schleichende Erosion» des Wohlstandes. «Ohne Reformen verschenken wir Wirtschaftswachstum, das in der Schweiz eher bei 2 Prozent liegen könnte statt wie zuletzt bei 1,3 Prozent.»

Bei der Digitalisierung sieht der Seco-Chefökonom die Schweiz sehr gut aufgestellt: «Unsere Erkenntnis ist, dass die Schweiz mit ihren Rahmenbedingungen gut aufgestellt ist, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen - auch ohne staatliche Förderprogramme.»

Die Schweiz zähle auch so «in allen Ranglisten zu den innovativsten Ländern». Arbeitsplätze würden wegen der Digitalisierung nicht verschwinden.

Angesprochen auf die Kritik, dass die beiden Staatsbetriebe Post und SBB im Rahmen des digitalen Wandels in immer neue Geschäftsfelder vordringen, machte Scheidegger klar, dass aus rein «ökonomischer Sicht» eine Privatisierung der beiden Staatsbetriebe anzustreben wäre. Dadurch würden Wettbewerbsverzerrungen aufgehoben. «Doch dafür gibt es offenbar keine politische Mehrheit. Die Diskussion wird aber weitergehen.»

Der Bund prüfe deshalb «Optionen zur Privatisierung als Erstbestlösung. Bei der Vielzahl von Staatsunternehmen in der Schweiz werden wir das Ei des Kolumbus aber nicht finden». Gerade in Infrastrukturmärkten könne man Konzerne «nicht einfach aufspalten».

«Eine Redimensionierung der SBB etwa zur reinen Betreiberin der Schieneninfrastruktur ergibt keinen Sinn», sagte Scheidegger und fügte an: «Die Frage lautet deshalb: Welchen Regeln muss ein staatliches Unternehmen folgen, damit es den Wettbewerb möglichst wenig verzerrt?»

Er sehe «aufgrund von Erfahrungen aus dem Ausland die Möglichkeit, zwingende Vorgaben zur Wettbewerbsneutralität zu erlassen». An die Adresse von Staatsbetrieben wie die SBB und Post gerichtet, sagte er, staatliche Beteiligungen seien «kein Freipass zur beliebigen Ausweitung in neue Geschäftsfelder».

veröffentlicht: 20. August 2017 11:54
aktualisiert: 20. August 2017 12:52
Quelle: SDA

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