Augen zu und Hände weg vom Lenkrad

26.11.2018, 15:27 Uhr
· Online seit 08.11.2018, 06:16 Uhr
Ein nahes Zukunftsthema ist «autonomes» Autofahren. Wie sich voll automatisierte Fortbewegung anfühlen kann liess Renault im Concept-Modell «Symbioz» auf (fast) freier Wildbahn ausprobieren.
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«Und jetzt ist es Zeit, wieder das Steuer zu übernehmen!» Sanft, aber bestimmt äussert der beifahrende Techniker die Anweisung. Wie? Was? Wo bin ich? Was mache ich hier? Gerade noch ist man geflogen, mit einem Schwarm Schwalben über eine Landschaft mit Wäldern, gelb und rot belaubt, mit Gewässern, blau und grün im Sonnenlicht leuchtend. Und jetzt katapultiert einen das Abnehmen der VR-Brille wieder zurück in die Wirklichkeit. Was für ein Kontrast, zwischen digitaler Virtualität und analoger Realität. In dieser ist es gerade herbstlich grau. Der Wind heult. Regenschauer peitschen übers Land.

Es dauert seine Zeit, bis die Wahrnehmung wieder auf die Autoroute A13, die Autobahn von Paris nach Caen in der Normandie, gerichtet ist. Auch auf die Rejustierung der Sitzposition von zurückgelehnt zu aufrecht, in die Griffweite des Lenkrads, um wieder aktiv steuern zu können. Derweilen zeigt der Tacho des Symbioz einen Speed von 110 Stundenkilometer. Das hat er die ganze Zeit getan, seit dem stufenweisen Einsteigen ins sogenannte vollautonome Pilotieren des Renault Symbioz.

Bis man den Sitz umdrehen kann

Der knapp fünf Meter lange viertürige Viersitzer ist seit 2017 Entwicklungs- und Forschungs-Prototyp, ein Demo-Car des Projekts «selbstfahrendes Auto». Dafür ist der Vollelektriker - zwei E-Motoren am Heck leisten gemeinsam 680 PS und 550 Nm - mit allen derzeit erdenklichen Sensoren ausgerüstet: Kameras, Radar, Lidar, Ultraschall etc. Die kommunizieren miteinander, sind mit der Umgebung (Markierungen, Einbauten, anderen Fahrzeugen etc.) über eine Wifi-Schnittstelle auf Basis von 4G-Standard und GPS vernetzt. An Bord sind nebst Infotainment sowie Navigation so gut wie alle aktuelle elektronische Fahrassistenzsysteme, dazu kommen drei Fahr-Modi: «Classic», für alltägliche, «Dynamic», für sportliche, «AD», für automatisierte Fortbewegung (da leuchtet der Franzose blau).

Was jetzt die ersten - schon sehr weit fortgeschrittenen - Schritte zur Fahrautomatisierung sind, das soll in nächster Zukunft in einen «vollautonomen» Standard münden. Dieser folgt einem fünfstufigen Plan: assistiertes Fahren, mit Hilfe diverser Assistenzsysteme, teilautomatisiertes Fahren, mit unter anderem Staupilot und selbsttätigem Parkhelfer, hochautomatisiertes Fahren, ohne das Lenkrad zu halten («hands off»), vollautomatisiertes Fahren, ohne das Verkehrsgeschehen permanent im Auge zu behalten («mind off») und fahrerloses Fahren, indem nur noch eine Zieleingabe ins Navigationssystem erforderlich ist - man könnte, wenn technisch möglich, auch einfach den Sitz umdrehen und etwas ganz anderes machen.

Die Hände in den Schoss legen

Während der Umgang mit dem adaptiven Abstandsregeltempomat zur Gewohntheit geworden ist, schon aus Gründen der Einhaltung der verordneten Speed Limits, kann es bei passionierten Autofahrern zu erhöhtem Pulsschlag kommen, wenn man das Lenken der Elektronik überlassen soll. Die Hände vom Lenkrad zu nehmen, sie in den Schoss zu legen und zuzuschauen, wie sich der Symbioz durch den Verkehr fädelt (ausschert, überholt, einschert), eine Mautstation passiert, das System kurz ob eines flüchtig aufblitzenden Sonnenstrahls aufgrund der Reflexionen auf dem nassen Asphalt die Orientierung verliert (und vom begleitenden Techniker-Team wieder auf Kurs gebracht wird), das ist eine harte Probe.

Der Ungewohntheit der Fahr-Inaktivität setzt es noch einen drauf, sobald der Sitz in Lümmel-Position gefahren ist und man - den Blick abgewendet - sich der Konversation mit Beifahrern widmen soll. Doch der Gipfel ist die mentale Abwesenheit, wenn einen die VR-Brille aus der Realität in die Virtualität entführt. Das Hirn kann sich dagegen wehren, wie es will, doch angesichts vorgegaukelter Sonnenuntergänge, futuristischer Landschaften und - siehe oben - Schwalbenflug ist es nicht lange fähig, die Konzentration auf das reale Fahrgeschehen zu behalten. Das ist ein bisschen so wie mit einer Vollnarkose, denn nur mit «Augen zu» ist der Ablenkung längst nicht Genüge getan.

Ein langer Weg

Mag sein, dass die Automatisierung des Autofahrens eine Sache ist, an die man sich - stufenweise - gewöhnen kann. Den Anfang werden wohl, neben automatisch agierenden City-Bussen, roboterisierte Taxis machen. Doch auch Privatfahrzeuge sollen voll automatisiert unterwegs sein, erst auf Autobahnen, dann auch in den Städten. Nicht nur passionierten Lenkraddrehern könnte es schwerfallen, die Fahrverantwortung zur Gänze an elektronische Systeme abzugeben. Noch darf bezweifelt werden, dass Algorithmen jegliche Verkehrssituation abdecken und dass künstliche Intelligenz die menschliche komplett ersetzen kann.

(Beatrix Keckeis-Hiller)

veröffentlicht: 8. November 2018 06:16
aktualisiert: 26. November 2018 15:27

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