Chur

«Das Herz blutet» – Anwohner kämpfen gegen Abriss der Siedlung Waldhaus

29.06.2020, 14:01 Uhr
· Online seit 28.06.2020, 06:45 Uhr
Die zwölf Häuser der Siedlung Waldhaus in Chur sollen einer neuen Überbauung weichen. Dagegen wehren sich die Anwohner schon seit Jahren – und greifen mit einer Online-Petition nach dem letzten Strohhalm.
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Die Siedlung Waldhaus im Norden Churs soll weg. Die zwölf Einfamilienhäuser, welche ehemals als Häuser für die Angestellten der Psychiatrischen Klinik Waldhaus dienten, entsprechen nicht mehr den gegenwärtigen Vorstellungen von Wohnkomfort, heisst es in einem Gutachten des Kantons Graubünden: kleine Räume, veralteter Ausbaustandard und niedrige Ausnützung der Grünflächen. Auf den über 19'000 Quadratmetern Baufläche soll eine neue Überbauung mit 120 Wohnungen entstehen. Das wollen die jetzigen Bewohner der Siedlung mit einer Online-Petition verhindern.

«Abbruch der Siedlung ist extrem schade»

«Wir setzen uns mit der Petition für den Erhalt dieser einzigartigen Siedlung ein», schreiben die Initianten. Verfasst wurde diese von verschiedenen Anwohnern um Dominic Schier, selbst seit sieben Jahren in der Siedlung wohnhaft: «Wir finden den Abbruch der Siedlung extrem schade. Einerseits für uns Anwohner, andererseits für die Natur.» Durch die Überbauung gehe ein grosser Lebensraum für teils unter Schutz stehende Lebewesen wie den Wiedehopf oder die Ringelnatter verloren. «Wir haben versucht, mit dem Tierschutz, dem Naturschutz, dem Mieterverband und einem Anwalt gegen das Bauvorhaben vorzugehen. Allerdings erfolglos.»

Die Tatsache, dass das Areal neu bebaut werden soll, sei schon seit rund 20 Jahren bekannt, sagt Dominic Schier. Überraschend sei es also nicht, dass das Bauprojekt nun vorangetrieben werde. Vor einer Woche erhielten die Anwohner der Siedlung eine Vorankündigung, dass die Mietverhältnisse voraussichtlich Ende März 2021 aufgelöst würden. «Jetzt wissen wir endgültig, dass es soweit ist», sagt Schier.

Wichtiges Zeugnis der Nachkriegsgeschichte

Die Online-Petition zum Erhalt der Siedlung diene nun als letzten Strohhalm, ein Wachrütteln der Verantwortlichen. Unterstützung erhalten die Anwohner der Siedlung von Hubertus Adam, dem ehemaligen Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums. Er sei vor Jahren in der Siedlung zu Besuch gewesen und habe für den Fall des Abbruchs seine Unterstützung zugesichert, sagt Schier. In einem Statement hält Hubertus Adam fest, dass die in den 40er-Jahren errichtete Siedlung ein wichtiges Zeitzeugnis der Nachkriegsgeschichte der Schweiz und landesweit eine der letzten ihrer Art sei. Deswegen sei die Siedlung absolut schützenswert.

Gutachten ermöglicht Abbruch

Nicht schützenswert, sondern lediglich erhaltenswert geht aus einem von der Denkmalpflege Graubünden in Auftrag gegebenen architekturhistorischen Gutachten hervor. Diese Einstufung bietet dem Kanton einen grösseren Spielraum in der Gestaltung des Areals. Gemäss Baugesetz sind erhaltenswerte Bauten nur «nach Möglichkeit zu erhalten». Von der Pflicht des Erhalts könne der Kanton befreit werden, wenn mit einem Neubau eine räumlich und architektonisch gleichwertige Siedlung erstellt werde.

Diese neue Siedlung nimmt langsam Formen an. Das Bauprojekt «Baumweissling» erhielt im November 2019 den Zuschlag der Regierung. «Eine Bebauung mit lebendigen, vieleckigen Baukörpern, welche sich dem gewachsenen Terrain anpassen und den bestehenden Ort neu interpretieren soll», heisst es von der Bündner Regierung.

«Das Herz blutet»

«Das Gutachten des Kantons war für unsere Siedlung das Todesurteil», sagt Dominic Schier. «Das Herz blutet relativ stark, wenn man Visualisierungen der neuen Siedlung sieht. Allerdings gehört das Siegerprojekt noch zu den schöneren Vorschlägen.» Ein Vorrecht auf die neuen Wohnungen gibt es für die aktuellen Mieter der Siedlung nicht. «Wahrscheinlich werden diese sich aber auch in einer Preisklasse bewegen, welche für eine fünfköpfige Familie nicht einfach tragbar sind.»

Frühestens Ende 2021 sollen die Bauarbeiten in der Siedlung Waldhaus beginnen. «Daran wird sich wahrscheinlich nicht mehr viel ändern lassen. Dass unsere Petition nach knapp einer Woche bereits über 200 Unterschriften zählt, zeigt uns aber, dass nicht nur wir uns für die alte, geschichtsträchtige Siedlung einsetzen», sagt Schier. Ob die Petition effektiv einen Unterschied machen wird, wagen auch die Initianten zu bezweifeln, aber: «Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.»

veröffentlicht: 28. Juni 2020 06:45
aktualisiert: 29. Juni 2020 14:01
Quelle: FM1Today

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