Mit dem Nachtzug zu reisen, ist zumindest in der Theorie sehr komfortabel: Abends einsteigen, sich im Schlafwagen aufs Ohr hauen und am Morgen früh wird man kurz vor dem Eintreffen am Zielbahnhof der europäischen Wunschdestination geweckt. Sei es Hamburg, Ljubljana oder Amsterdam.
Man hat hunderte Kilometer im Schlaf zurückgelegt, ist ausgeruht – und der freundliche Zugbegleiter reicht einem erst noch Kafi und Gipfeli. "Ab Zürich HB und Basel SBB fährt jeden Abend ein Nachtzug nach Amsterdam. Für eine entspannte Reise", heisst es denn auch auf der Buchungsseite der SBB.
Downgrade ohne Ankündigung
Dass die Realität mit der romantischen Vorstellung oft nicht mithalten kann, musste auch eine St.Gallerin feststellen. Statt bequem über Nacht mit dem Zug zu fahren, musste sie eine Tortur auf sich nehmen.
«Wir hatten den Schlafwagen gebucht, um über Nacht von Zürich nach Amsterdam fahren zu können. Vor Ort wurde uns jedoch mitgeteilt, dass wir ein Downgrade bekommen und stattdessen in den Liegewagen müssen», sagt die junge Frau.
Auf der SBB-Seite wird zwar ausgewiesen, dass ein Downgrade vorkommen kann. Sie ärgert sich aber insbesondere daran, dass sie nicht frühzeitig darüber informiert wurde. In diesem Fall hätte sie die vor Monaten gebuchte Reise gar nicht erst angetreten.
«Ich dachte: Gut, dann muss ich das eben hinnehmen. Aber es war sehr unbequem und da ich Arthritis habe, musste ich mich mehrere Tage lang erholen.»
Auf der Rückfahrt dasselbe Spiel
Eine richtige Erklärung, warum sie und ihr Freund trotz Schlafwagen-Buchung in den Liegewagen mussten, erhielt die 30-Jährige nicht. Die Unterschiede zwischen den Angeboten sind markant: Im Schlafwagen gibt es richtige Betten, ein Lavabo und das Frühstück ist inbegriffen. Der Liegewagen hingegen sah so aus:
Von einer angenehmen Reise und einer entspannten Ankunft in Amsterdam konnte keine Rede sein. Von Kaffee ganz zu schweigen. Und die Rückreise zeigt noch mehr Unstimmigkeiten auf. «Ich habe natürlich gehofft, dass wir auf der Rückreise nicht wieder ein Downgrade bekommen», sagt die St.Gallerin.
Trotzdem habe sie es befürchtet, da auf dem Rückreiseticket dieselbe Nummer vermerkt war, die schon der Wagen auf der Hinfahrt hatte. Und siehe da: Auch am Bahnhof in Utrecht heisst es wieder: Der Schlafwagen ist nicht verfügbar, Downgrade auf den Liegewagen.
Es gibt einen Schlafwagen, und der ist leer
Die Aussicht auf eine weitere Nacht auf der harten Liege lässt die junge Frau verzweifeln. Ihr Freund will sich das nicht gefallen lassen und arbeitet sich durch das Bahnpersonal. «Niemand wollte dafür zuständig sein, bis er dann doch jemanden gefunden hat. Dann hiess es, es gebe gar keinen Schlafwagen. Dann kam aus, es gibt doch einen, ganz hinten am Zug – und wir durften auch hinein», sagt die 30-Jährige. Nun, sie hatten ja auch dafür bezahlt.
Was den beiden auffällt: Der Wagen ist beinahe leer. Auch in ihrer Kabine sind sie nur zu zweit, obwohl sie für drei Personen ausgelegt gewesen sei. An diesem Punkt verstehen sie gar nichts mehr: Warum werden sie und andere Passagiere in den Liegewagen geschickt, wenn der ganze Schlafwagen beinahe leer ist und es offensichtlich Platz genug gibt?
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Wo fährt er denn nun hin?
Eine mögliche Erklärung hören sie aus dem Gespräch zweier Kondukteure heraus. Sie unterhalten sich darüber, dass der Schlafwagen vielleicht nur nach Basel fahre und nicht nach Zürich, was sie eigentlich gebucht hatten. Doch der Verantwortliche des Schlafwagens habe auf ihre Nachfrage hin Entwarnung gegeben: Er fahre mit diesem Wagen nach Zürich, keine Sorge.
Aufstehen, wir sind in Basel
Nun scheint doch noch alles gut zu kommen. Nach einer Nacht im Schlafwagen klopft es an der Tür, der Zugbegleiter bringt Frühstück. Zwar schon um sechs Uhr morgens, etwas früh, aber was soll's. Sie legen sich nochmals hin – nur um fünf Minuten später abermals geweckt zu werden.
«Er hat uns unsere Tickets gebracht, wir waren verwirrt. Fünf Minuten später klopft es wieder: Wir müssen alles zusammenpacken und aussteigen. Der Wagen fahre nicht nach Zürich», berichtet die 30-Jährige. So müssen sie unter zunehmendem Drängen des Zugbegleiters ihre Sachen packen und in den vorderen Teil des Zug wechseln, der nach Zürich weiterfuhr.
«Werden Personal sensibilisieren»
Gut organisiert ist das nicht. Der St.Gallerin ist auch einige Zeit nach der Reise um den Jahreswechsel herum unklar, warum das alles überhaupt passiert ist. Warum Passagiere ein Downgrade bekamen, obwohl es einen beinahe leeren Schlafwagen gab.
Sie vermutet, es liegt daran, dass der Schlafwagen nur bis Basel fuhr – was die SBB auf Anfrage von FM1Today bestätigen: «Der Schlafwagen im Zugteil Zürich ist ausgefallen, im Zugteil Basel war er vorhanden. Wir bedauern, dass die Information im Zug dazu nicht erfolgt ist. Wir werden unser Personal dazu nochmals sensibilisieren.»
SBB mit Nachtzug-Situation «unzufrieden»
Auch abgesehen davon scheint dem Bahnunternehmen bewusst zu sein, dass es bei den Nachtzügen Verbesserungspotential gibt.
«Die SBB betreiben die Nachtzüge in Kooperation mit der ÖBB und weiteren Partnern. Es ist in unserem gemeinsamen Interesse, die Qualität der Nachtzüge dort zu verbessern, wo sie unzureichend ist. Die SBB sind mit der aktuellen Situation unzufrieden und entschuldigen sich bei den betroffenen Kundinnen und Kunden für entstandene Unannehmlichkeiten. Die SBB und ihre Partnerbahnen setzen alles daran, um die Situation weiter zu verbessern», heisst es auf Anfrage.
Der Zustand des Liegewagens entspreche darüber hinaus nicht dem SBB-Standard, ein Austausch der Liegen sei in Auftrag gegeben worden.
«Nehme den Nachtzug nicht mehr»
Im Falle eines Downgrades haben Passagiere einen Anspruch auf teilweise Rückerstattung – doch auch dafür habe sie nochmals kämpfen müssen, sagt die 30-Jährige: «Im Gegensatz zum Bahnpersonal auf der Reise waren die Leute am Schalter sehr kompetent und freundlich. Trotzdem wollten sie mir zuerst nur die Differenz erstatten – und nicht die Hälfte, so wie es in den Geschäftsbedingungen steht.»
Am Ende habe sie den korrekten Betrag erhalten. Trotzdem zeigt sich die junge Frau, umweltbewusst und sozial eingestellt, desillusioniert. «Ich nehme ja den Zug, weil ich ökologisch unterwegs sein will. Sonst ist daran alles schlechter: Es ist weniger komfortabel, geht länger und kostet erst noch mehr als das Flugzeug. Aber unter diesen Umständen nehme ich den Nachtzug nicht mehr», sagt die 30-Jährige.
Eine Offenbarung, die sie selbst bedauert. Denn die Vorstellung des Nachtzugs ist nach wie vor super – nur entspricht sie oftmals nicht der Realität.