St.Galler Intensivpflegerin

«Wenn Väter von Teenagern sterben, lässt das niemanden kalt»

11.11.2021, 14:19 Uhr
· Online seit 10.11.2021, 05:38 Uhr
Vor 22 Monaten, mit dem Beginn der Pandemie, hat sich die Arbeit der Pflegenden auf den Intensivstationen nachhaltig verändert – auch im Kantonsspital St.Gallen. Ursula Betschart, Leiterin der medizinischen Intensivstation des Kantonsspitals St.Gallen, spricht im Interview darüber, wie sie diese Zeit erlebt.
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Ursula Betschart leitet seit 2001 die Pflege der Intensivstation des Kantonsspitals St.Gallen und hat entsprechend langjährige Erfahrung mit der Pflege von Intensivpatientinnen und -patienten. Auf der Station arbeiten ungefähr 70 Pflegende. Sie alle sind seit Pandemiebeginn arbeitsmässig stark belastet. Die Pandemie hat die Arbeit auf der Station stark verändert – sie liess die Sterblichkeitsrate zeitweilig hochschnellen und für die übrigen Patientinnen und Patienten fanden sich kaum noch Betten.

Wie gross sind die Überlebenschancen der Patientinnen und Patienten, die mit Covid-19 auf die Intensivstation kommen?

Ursula Betschart: Man hört in den Medien, dass 50 Prozent sterben würden, dies kann ich so nicht bestätigen. Ich kann nur von unserer Station reden. Wir haben seit Anfang der Corona-Pandemie über 220 Patientinnen und Patienten betreut. Die Überlebenschancen waren je nach Welle unterschiedlich. Bei der ersten Corona-Welle ist rund ein Drittel der beatmeten Patientinnen und Patienten verstorben. In der zweiten Welle, im Herbst 2020, waren es deutlich mehr – über 40 Prozent. Inzwischen ist die Mortalität bei der dritten und vierten Welle gesunken, sie liegt jetzt sicher deutlich unter 20 Prozent. Damit ist die Mortalität auf unserer Abteilung immer noch doppelt so hoch wie im langjährigen Durchschnitt.

Wie hat sich die Arbeit während der Corona-Pandemie auf der Intensivstation verändert?

Was sich geändert hat, ist vor allem das Alter der Patientinnen und Patienten. Anfangs der Pandemie betreuten wir eher ältere Personen, gut 60 bis über 70 Jahre alt. Doch dann wurden sie immer jünger. Während der letzten Welle, nach den Sommerferien, waren 50 Prozent der Patientinnen und Patienten zwischen 40 und 60, der Rest jünger oder älter. Anfänglich waren es vor allem Männer, die wir auf der Intensivstation betreuten, inzwischen sind es aber auch immer mehr Frauen.

Haben sich Pflegende angesteckt?

Ja, als es noch keine Impfung gab, haben sich Pflegende angesteckt. Natürlich weiss man selten genau, wo, aber ich bin sicher, dass sich damals einige bei der Arbeit mit dem Virus angesteckt haben. Manche fielen länger aus, aber zum Glück musste sich niemand im Spital behandeln lassen.

In diesen 22 Monaten, seit die Corona-Pandemie andauert und die Intensivstation so stark belastet war, gab es da Schicksale, die Sie besonders berührt und beschäftigt haben?

Ganz am Anfang, als das Virus neu und unbekannt war, taten uns die Patientinnen und Patienten einfach leid. Da war zum Beispiel ein Kirchenchor, die Mitglieder wollten einfach miteinander singen und verschiedene Mitglieder erkrankten dann an Corona. In der zweiten Welle verstarben sehr viele junge Leute, Familienväter von Teenagern, das lässt niemanden kalt. Zeitweise bestand auch die schwierige Situation, dass so viele Corona-Kranke bei uns lagen, dass wir alle kaum wussten, wo anfangen und auch das Gefühl bekamen, weder den Patientinnen und Patienten noch den Angehörigen gerecht zu werden.

Waren auch Schwangere unter den Patientinnen?

Das sind natürlich auch Schicksale, die unsere Leute stark beschäftigen. In der letzten Welle nach den Sommerferien waren zwei schwangere Frauen auf der Intensivstation.

Eine Patientin, die ursprünglich aus dem Kanton St.Gallen kam, haben wir von einem Spital in der Innerschweiz übernommen. Damals mussten die Leute in der ganzen Schweiz verteilt werden. Diese Patientin war so krank, dass sie zwei Wochen nach der Geburt einen mechanischen Lungenersatz brauchte. Wir wussten sehr lange nicht, ob sie ihr Kind jemals wieder sehen wird.

Dass die medizinische Intensivstation voll belegt war, kam schon vor Corona vor. Was ist der Unterschied zwischen Menschen mit Corona und anderen Patientinnen und Patienten?

Stimmt, wir haben immer eine gute Auslastung. Im Allgemeinen haben wir ein breites Spektrum an medizinischen Krankheitsbildern, die wir betreuen, was die Arbeit ja auch extrem spannend macht.

Mit der Pandemie hat sich das geändert. Zeitweise betreuten wir ausschliesslich Corona-Patientinnen und -Patienten, zum Beispiel letzten Herbst. Wir mussten zusätzliche Zimmer öffnen. Die ganze Abteilung war voll mit Personen, die an Beatmungsgeräten auf dem Bauch lagen. Ein Bild, das wir nie vergessen werden. Und die Sterblichkeit war sehr hoch. Vor allem auch bei jungen und gesunden Personen. Das ist etwas, das wir zuvor in diesem Ausmass nie gesehen hatten.

Was ist ausserdem besonders bei Corona-Infizierten?

Diese Patientinnen und Patienten sind nicht nur einfach zwei Tage bei uns, sondern im Durchschnitt 20 Tage. Ausserdem ist der Kontakt mit ihnen aussergewöhnlich. Wenn sie auf die Abteilung kommen, kann man häufig noch mit ihnen sprechen und gewisse Dinge klären, was natürlich eine ganz andere Beziehung gibt. Dann werden sie intubiert, sind tief sediert und niemand kann sagen, ob sie je wieder erwachen. Wenn sie wieder langsam aufwachen, sind sie oftmals sehr verwirrt und gefährden sich und in Extremfällen auch das Pflegepersonal. Das alles ist sehr belastend.

Wie hoch ist der Anteil an Geimpften, der bei Ihnen auf der Intensivstation eingeliefert wird?

Bisher haben wir drei geimpfte Patientinnen und Patienten betreut. Zwei von ihnen waren in Behandlung mit Medikamenten, die ihr Immunsystem unterdrückten. Alle andern waren bisher nicht geimpft. Uns treibt deshalb ein grosses Unverständnis um. Wären genügend Personen geimpft, könnten viele schwierige Situationen verhindert werden. Dies stellt uns auch vor moralische Fragen.

Wie meinen Sie das?

Da war nach den letzten Sommerferien eine 25-jährige Frau – nicht an Corona erkrankt –, die einen Platz an einer Herz-Lungen-Maschine benötigte. Es musste für sie in der ganzen Schweiz ein Platz gesucht werden. Ich weiss nicht, wo sie schlussendlich aufgenommen wurde. Die Plätze waren mit Covid-Erkrankten belegt, die Zugang zur Impfung gehabt hätten. Es braucht ja immer Betten für Schwerkranke, zum Beispiel nach einem Schlaganfall, einer «herkömmlichen» Lungenentzündung, einem Herzinfarkt oder einem Unfall. Sie alle haben doch auch ein Recht auf einen Intensivplatz. Und nun sehen wir, die Covid-Eintritte steigen wieder an. Und wir fragen uns, wie es weiter gehen wird.

Gibt es denn auch Personen, die aufgrund einer Corona-Impfung auf der Intensivstation gepflegt werden mussten?

Bei uns ist kein solcher Fall bekannt.

Was sind die Folgen eines Aufenthalts auf der Intensivstation mit Covid-19?

Die Patientinnen und Patienten bleiben im Schnitt etwa 20 Tage. Sie haben nach dem langen künstlichen Koma kaum mehr Muskeln, weil sie sich lange Zeit nicht bewegt und muskellähmende Medikamente erhalten haben. Oftmals leiden sie auch an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie haben schlechte Erinnerungen, schlechte Träume, die sie danach verarbeiten müssen.

Werden Covid-19-Infizierte, die auf einer Intensivstation behandelt wurden, überhaupt wieder vollständig gesund?

Die Frage ist immer, was heisst vollständig gesund? Letzten Herbst hat eine meiner Mitarbeiterinnen unsere Patientinnen und Patienten nach dem Aufenthalt befragt. Alle waren dankbar, dass sie die Krankheit überlebt hatten. Vereinzelt liefen IV-Abklärungen, viele waren wieder ziemlich mobil. Während der Olma hat eine Mitarbeiterin von uns eine ehemalige Patientin getroffen, die letztes Jahr lange auf der Station lag und um die wir sehr bangen mussten. Die gut 50-Jährige sagte, dass sie noch immer Mühe habe, Treppen zu steigen.

veröffentlicht: 10. November 2021 05:38
aktualisiert: 11. November 2021 14:19
Quelle: FM1Today

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