Thurgau

Angst vor Genderstern: Wird SVP-Initiative zum Boomerang?

21.07.2023, 10:01 Uhr
· Online seit 21.07.2023, 05:31 Uhr
Im Kanton Thurgau verlangt eine Initiative nach mehr Staats-Neutralität – und zwar politisch, weltanschaulich und sprachlich. Damit wird klar auf die Gendersprache inklusive Stern abgezielt. Doch geht das und was bedeutet Gendersprache überhaupt? Experten schätzen ein.
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Die politische, weltanschauliche und sprachliche Neutralität des Staates soll im Kanton Thurgau in der Verfassung verankert werden. Dies verlangt eine parlamentarische Initiative aus dem Grossen Rat, welche von Hermann Lei (SVP), Pascal Schmid (SVP), Oliver Martin (SVP) und Marcel Wittwer (EDU) eingereicht und von 34 weiteren bürgerlichen Ratsmitgliedern unterstützt wurde. Zudem soll der Staat zur «Verwendung von sprachlichen Standardformen» verpflichtet werden.

Es wird recht schnell klar, worauf dieser Vorstoss auch abzielen soll: Er will die geschlechterneutrale sprachliche Neuerung hindern. Mitinitiant Lei macht auch keinen Hehl daraus: «Wir wollen das nicht.» Mit der Verfassungsänderung soll laut Begründung der Initianten den «Entwicklungen Rechnung getragen werden, den Rechtsstaat für politische Zwecke zu missbrauchen und staatliche Gewalt gegen Andersdenkende zu richten (Identity Politics)».

«Der Staat muss neutral sein und darf den Bürger nicht bei der Meinungsbildung und -findung beeinflussen», erklärt Hermann Lei auf Anfrage. Die Gendersprache sei zurzeit «nur eine Ideologie», so Lei und fährt fort: «So lange dies so ist, hat sich der Staat in Zurückhaltung zu üben.» Dass beispielsweise Studierende die Gendersprache verwenden müssen, sei ein Diktat von oben. Falls sich die Genderschreibweise irgendwann durchsetzen sollte, dürfe der Kanton diese auch verwenden, aber nicht vorher, sagt Lei.

Daher soll sich der Staat laut Lei an die in der Initiative erwähnten «Standardformen» halten. Wie diese aber definiert werden, erklärt er nicht. Er verweist auf den «allgemeinen Sprachgebrauch». Für Lei dürfte hierbei die gesprochene Sprache gemeint sein.

Rechtliche Klärung wäre vermutlich notwendig

Doch können Rechtschreibregeln in einer Kantonsverfassung rechtlich gesehen festgehalten werden? «Ja», sagt Goran Seferovic, Rechtsprofessor an der ZHAW School of Management and Law, gegenüber FM1Today und holt dann zur grossen Erklärung aus. Der Rechtstext der Initiative sei sehr offen formuliert – und der Wortlaut ist massgebend für die Umsetzung. «Falls die Initiative angenommen wird, müsste die zuständige Behörde definieren, was darunter verstanden werden muss», erklärt Seferovic.

Denn gemäss dem Rechtsexperten könnte der Text momentan in beide Richtungen interpretiert werden. «Unter sprachlicher Neutralität könnte man womöglich auch genau das Gegenteil verstehen. Schliesslich würde die Genderform ja alle inkludieren und wäre so neutral», erläutert Seferovic. Falls die zuständige Behörde zum Schluss kommen würde, dass damit die Genderformen sprachlich in Amtsdokumenten verboten werden müssten, müsste laut Seferovic geklärt werden, ob dies in dieser Form rechtlich zulässig ist.

Rechtschreibrat bestimmt mit

Seferovic betont, dass die Kantone bei der Amtssprache nicht völlig frei entscheiden können, denn die Schweiz ist Teil der Wiener Absichtserklärung. Darin verpflichten sich die Unterzeichnenden, die Regeln des Rechtschreibrates zu befolgen. Der Rechtschreibrat hat sich vergangene Woche über die Genderregeln unterhalten, aber noch keinen Entscheid getroffen. Der Rat beobachtet aber die Entwicklung weiterhin.

Eine weitere Rolle könnte auch das Diskriminierungsverbot spielen. Der Staat darf Personen nicht aufgrund von gewissen Merkmalen anders behandeln. Dazu zählt auch das Geschlecht sowie Inter- oder Transsexualität. Ob darunter auch die Geschlechtslosigkeit fallen könnte, ist nicht geklärt. Es sei aber in diesem Bereich einiges in Bewegung, wie Seferovic sagt: «Es ist denkbar, dass dies bald auch als Diskriminierungstatbestand aufgefasst wird.» Dies könnte den Staat dann verpflichtet, auch in dieser Hinsicht sprachlich neutral aufzutreten.

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Doch warum muss dafür die Verfassung des Kantons geändert werden? Würde dies nicht einfacher gehen? Schliesslich müsste die Änderung am Schluss noch vors Volk. Seferovic sieht da eine politische Motivation dahinter: «Die Verfassung gilt als oberste Norm. Wenn etwas in der Verfassung steht, hat dies eine hohe demokratische Legitimation, da es ja vom Volk gutgeheissen wurde. Das kann politisch gewollt sein.» Denn notwendig wäre dieser Schritt nicht.

Aus diesem Grund könnte die Initiative auch so schwammig formuliert sein. «Es könnte sein, dass es eher um das politische Zeichen geht und die Umsetzung weniger interessiert», führt Goran Seferovic aus. Der andere Grund für die offene Formulierung könnte sein, um den Behörden im Falle einer Annahme Spielraum bei der Umsetzung zu geben.

Neutral sein geht nicht

Neben einem rechtlichen Aspekt kann man das Ganze aber auch linguistisch betrachten. Aus dieser Sicht beziehe sich der Begriff «neutrale Sprache» auf eine Form der Kommunikation, bei der Wörter, Ausdrücke und Formulierungen vermieden werden, die Vorurteile, Diskriminierungen oder Stereotypen hervorrufen könnten, wie Lovis Cassaris, Queerlinguist:in an der Universität Zürich, auf Anfrage erklärt. «In einer solchen Sprache wird Respekt und Inklusivität für alle Beteiligten zum Ausdruck gebracht», sagt Cassaris und ergänzt: «Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass es keine politisch neutrale oder ideologiefreie Sprache gibt. Jedes Mal, wenn wir sprechen oder schreiben, positionieren wir uns politisch.»

Ein Verbot von Schreibweisen, die beispielsweise einen Genderstern enthalten, erachtet Cassaris aus verschiedenen Gründen problematisch – vor allem mit Blick auf das Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetz.

Es geht um Präsenz

Dabei betont Cassaris, dass das Ziel des Genderns nicht eine gänzlich geschlechtsneutrale Sprache sei, sondern dass alle in der Sprache repräsentiert werden. «Gendern ist, um es auf den Punkt zu bringen, die Sichtbarmachung von Geschlecht im Sprachgebrauch. Neutralisierungsstrategien, die Geschlecht unsichtbar machen, werden hingegen als Entgendern bezeichnet», fasst Cassaris kurz und knapp zusammen.

Manchmal sei es auch sinnvoll, die Geschlechter klar zu benennen, beispielsweise in der Wissenschaft. So sei die Bezeichnung «50 Probanden haben an einer Studie teilgenommen» nicht genug aussagekräftig, da sie nicht anzeigt, ob es nur Männer sind oder auch Frauen und non-binäre Menschen daran teilgenommen haben. Würde man «Proband*innen» schreiben, sei klar, dass alle Geschlechter in der Studie vertreten sind.

Auch auf die von den Initianten erwähnte Standardformen geht Cassaris ein. Diese können sich mit der Zeit aufgrund verschiedener Faktoren verändern. «Bei ausreichender Verwendung werden Schreibungen mit Genderzeichen früher oder später in den Duden aufgenommen, da dieser nicht vorschreibend, sondern beschreibend ist und den aktuellen Sprachgebrauch abbildet. Das entspricht einem demokratischen Prozess von unten, den die Initiant:innen besonders ansprechend finden müssten», sagt Cassaris.

veröffentlicht: 21. Juli 2023 05:31
aktualisiert: 21. Juli 2023 10:01
Quelle: FM1Today

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