86 Jahren und fünf Tage nach der Gründung der «Federata Shqiptare e Futbollit» ist es so weit, spielt Albanien in Lens sein erstes Spiel an einer EM- oder WM-Endrunde. Der Weg dahin war während Jahrzehnten beschwerlich, und nicht selten war viel Demut gefragt. Vor der erfolgreichen Kampagne für die EM 2016 absolvierte Albanien 179 EM- oder WM-Qualifikationsspiele und verlor 120 davon. Das sind 67 Prozent.
Zum grossen Aussenseiter in Frankreich macht Albanien aber vor allem, dass kein anderes der 24 Teams im FIFA-Ranking schlechter klassiert ist. Ausserdem betritt neben den Rot-Schwarzen, den «Kuq e zintjë», nur noch Island mit der ersten (EM-)Endrunden-Teilnahme Neuland.
Aber gegen die Schweiz und dann im letzten Gruppenspiel gegen Rumänien rechnen sich die Albaner durchaus Chancen aus. Auch ihr Ziel sind die Achtelfinals. «Wir werden mindestens die Gruppenspiele überstehen», sagte der frühere albanische Top-Stürmer Erjon Bogdani, dessen Wort im Land dank seiner 257 Serie-A-Spiele Gewicht hat. Aus dem aktuellen Team tönt es ähnlich. Mittelfeldspieler Amir Abrashi meinte: «Es gibt keinen Grund, sich vor den Schweizern zu fürchten. Sie haben individuelle Klasse, aber auch nicht die ganz grossen Stars.»
Abrashi vom Bundesliga-Aufsteiger SC Freiburg, aufgewachsen im Thurgau und früher Schweizer U21- und Olympia-Internationaler, ist einer von vier Spielern in der möglichen Startformation mit einem starken Bezug zur Schweiz, weil sie hier aufgewachsen sind. Neben ihm kommen im Mittelfeld Burim Kukeli vom FC Zürich und Taulant Xhaka vom FC Basel zum Einsatz. Auf der linken Seite stürmt Ermir Lenjani, der dem Nachwuchs des FC Winterthur entstammt und ebenfalls den Schweizer Pass besitzt.
Sie alle haben ihre Wurzeln im Kosovo, wie die Schweizer Stammspieler Xherdan Shaqiri, Valon Behrami und Granit Xhaka. Für Abrashi ist es auch sonst ein Spiel gegen Kollegen. Er hat bei den Grasshoppers mit Yann Sommer, Michael Lang, Shani Tarashaj und Roman Bürki zusammengespielt. «In den letzten Wochen haben wir den Kontakt aber unterbrochen. Jeder soll sich auf sein Spiel, seine Mannschaft und sein Team konzentrieren. Nach der EM haben wir noch lange genug Zeit, über dieses Spiel zu reden.»
Die «Schweizer» Fraktion im albanischen Team, der auch Frédéric Veseli, Migjen Basha, Arlind Ajeti, Naser Aliji und Shkelzen Gashi angehören, ist bemüht, Fragen der Herkunft nicht in den Vordergrund zu stellen. «Das Spiel ist wichtig, weil es das erste Spiel ist. Das andere wollen und müssen wir ausblenden», so Abrashi. «Unsere Stärken sind der Zusammenhalt und die taktische Disziplin. Wir müssen fokussiert sein auf das Spiel und nur auf dieses Spiel.»
Denn eines wissen die Albaner auch als Debütanten auf der EM-Bühne. Dem Start kommt enorme Bedeutung zu. Im neuen Modus, dank dem sich auch vier der sechs Gruppendritten für die Achtelfinals qualifizieren, kann ein Sieg im ersten Spiel schon mehr als die halbe Miete sein. Der rechte Flügel Odise Roshi, der nicht aus dem Kosovo, sondern aus Albanien selbst kommt und auch nie in der Schweiz gespielt hat, bringt die Ausgangslage mit einem Sprichwort aus seiner Heimat in Mittelalbanien auf den Punkt. «Fillimi mbare gjysma punes», sagt er. Ein guter Beginn ist die halbe Arbeit.