Unberechenbare EM-Ausgangslage für die Schweiz

11.06.2016, 09:38 Uhr
· Online seit 11.06.2016, 05:10 Uhr
Bereits beim nicht zu unterschätzenden Auftakt heute (15.00 Uhr) gegen Albanien spielt die Schweizer Nationalmannschaft um die optimale Dynamik ihrer kommenden EM-Tage.
Raphael Rohner
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Wie unangenehm sich für die Schweizer Favoriten die Wahrheit auf dem Platz von Lens anfühlen wird, kann nur Teil von Mutmassungen sein. Im Drehbuch ist für Albanien die simplere Rolle vorgesehen. Unbeschwert, vollgepumpt mit Adrenalin, stolz, endlos mutig und schmerzlos wird der Debütant die Elf jenes Verbandes bekämpfen, die inzwischen zum Inventar der Endrundenteilnehmer gehört.

Nicht abschätzbar ist im schweizerisch-albanischen «Derby» der vielen Doppelbürger der Strom der Emotionen. Wird es Leadern wie Granit Xhaka, Valon Behrami oder Xherdan Shaqiri tatsächlich gelingen, den brisanten Hintergrund komplett auszublenden? Kommen die Schweizer Secondos mit den aussergewöhnlichen Rahmenbedingungen im Stade de Bollaert-Delelis zurecht? Wie reagiert der Rest der Equipe auf die unberechenbare Atmosphäre?

Zuletzt zeigte der Daumen der Beteiligten nur in eine Richtung: nach oben. Ab Samstag hängt die Gestik wieder vermehrt vom Tagesgeschäft ab. Die Tabelle rückt ins Zentrum, die sportliche Realität bestimmt die Debatte - und nicht die richtige oder falsche Wahl der Unterkunft.

Knapp drei Wochen lang hatten sich die Schweizer in Lugano und seit dem letzten Montag in der südfranzösischen Hitze von Montpellier vor allem mit sich, mit der Ambiance beschäftigt. Sie versuchten, teamintern dynamische Prozesse auszulösen, den Sinn fürs Kollektiv zu schärfen, Ballast aus dem vereinzelt schwierigen Kluballtag abzuwerfen - Basisarbeit eben.

«Jeder muss beseelt davon sein, etwas Neues aufzubauen und die Schwierigkeiten weit hinter sich zu lassen», legte Vladimir Petkovic seiner Equipe noch vor dem ersten Camp-Tag im Tessin nahe. Dem Nationalcoach schwebte früh vor, welches Bild die SFV-Auswahl vermitteln sollte: Das Nationalteam als kompromisslose Einheit, als Ensemble, das in jedem Moment Solidarität vorlebt.

«Jeder soll registrieren: Die Schweiz ist wieder ohne Wenn und Aber eine geschlossene Einheit, jeder soll für den anderen atmen.» Das Team im Boot auf dem Lago di Lugano. TV-Kameras surrten, die Fotografen klickten - das von der Team-Leitung entworfene Sujet wurde nicht zu knapp verbreitet.

Die teilweise mediokren Auftritte seit der EM-Qualifikation waren kein Thema mehr. Die Protagonisten relativierten die Ergebnisse, die positiven Ansätze überwogen in der eigenen Deutung der jüngeren Vergangenheit. Kurzum: Die Mannschaft wischte die mediale Skepsis weg und signalisierte stattdessen: «Wir sind bereit.»

Immer wieder waren couragierte Voten zu vernehmen. Die Spieler denken gross, der Vorstoss in die K.o.-Phase wird als Minimalziel deklariert. Petkovics Wunschszenario sieht vor, am 19. Juni im letzten Vorrundenspiel gegen Frankreich um den Gruppensieg zu spielen.

Peter Stadelmann, der abtretende Delegierte des Nationalteams, seit 2009 Insider und Beobachter gleichermassen, exponierte sich bereits im Herbst vor zwei Jahren überraschend deutlich: «Das Gefühl des Achtelfinals kennen wir mittlerweile, irgendwann wäre ein Viertelfinal fällig.»

Der St. Galler Jurist kennt die EM-Historie - die Schweizer haben an drei Endrunden nur eine Partie (2:0 gegen Portugal) gewonnen; er machte seine Äusserung im Zusammenhang mit den drei Achtelfinal-Niederlagen bei den letzten vier WM-Teilnahmen. Dem Vernehmen nach war die verbale Steilvorlage des Funktionärs in der SFV-Delegation nicht mehrheitsfähig.

Während der sechsjährigen Ära von Ottmar Hitzfeld hätte sich Stadelmann kaum derart deutlich positioniert. Der deutsche Star-Trainer duldete keine Wortmeldungen, die es den Kommentatoren ermöglicht hätten, zusätzlich Druck aufzubauen. Seit der Amtsübernahme von Petkovic fällt die Kommunikation weniger einheitlich aus; weniger Kalkül, mehr Brisanz.

Der bosnische Kroate ist bei den journalistischen Begleitern nicht auf Sympathiepunkte aus. Anders als Hitzfeld besitzt er nicht die imposante Aura des internationalen Siegers. Ihm fehlt zum einen die Macht, den öffentlichen Tenor zu seinen Gunsten beeinflussen zu können, und wohl auch die Lust, illustrierte Nähe zuzulassen.

Er wägt nicht jedes Wort ab. Beim ersten öffentlichen SFV-Rendez-vous vor 22 Monaten war nichts von Diplomatie zu spüren: «Wir sind keine kleine Mannschaft mehr.» Der Tessiner buchstabierte nie zurück. Er reagierte auf die kritische Analyse seiner Arbeit zwar nicht immer souverän, aber von seiner selbstbewussten Linie wich der stolze Nationalcoach nicht ab.

Unlängst doppelte Petkovic in einem Interview mit der Nachrichtenagentur sda bei der Frage gar noch nach, wie viel Substanz er denn im Team vermute: «Ich coache eine Gruppe von Wettkampftypen. Unter Druck nicht die Nerven verlieren, ist eine der Stärken meiner Mannschaft.»

Die EM-Kampagne in Frankreich wird seinen weiteren Weg mit der Schweiz entscheidend prägen. Übertrifft der 52-Jährige in einer schwierigen Konstellation die Erwartungen, wird der Schatten Hitzfelds schwinden. Die EM ist nicht nur für die Hoffnungsträger auf dem Feld eine Chance, ihr Potenzial zur «Primetime» einmal vollumfänglich nachzuweisen. Sie ist für den Selektionär die Möglichkeit, ein landesweit anerkanntes Profil zu schaffen.

Albanien - Schweiz. - Samstag, 15.00 Uhr. - Stade Bollaert-Delelis, Lens. - SR Velasco Carballo (ESP).

Albanien: 1 Berisha (Lazio Rom); 4 Hysaj (Napoli), 15 Mavraj (Köln), 5 Cana (Nantes), 7 Agolli (Karabach Agdam); 13 Kukeli (Zürich); 21 Roshi (Rijeka), 14 Taulant Xhaka (Basel), 22 Abrashi (Freiburg), 3 Lenjani (Nantes); 10 Sadiku (Vaduz).

Schweiz: 1 Sommer (Mönchengladbach); 2 Lichtsteiner (Juventus), 22 Schär (Hoffenheim), 20 Djourou (Hamburg), 13 Rodriguez (Wolfsburg); 11 Behrami (Watford), 10 Xhaka (Mönchengladbach); 23 Shaqiri (Stoke), 15 Dzemaili (Genoa), 18 Mehmedi (Leverkusen); 9 Seferovic (Frankfurt).

veröffentlicht: 11. Juni 2016 05:10
aktualisiert: 11. Juni 2016 09:38
Quelle: SDA

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