Missbrauchsskandale

«Die Kirchenaustritte sind der Preis, der bezahlt werden muss»

18.09.2023, 08:21 Uhr
· Online seit 18.09.2023, 07:54 Uhr
Seit Jahren steigt die Zahl der Kirchenaustritte. Nach Aufdeckung der Missbrauchsfälle dürften diese noch weiter zunehmen. Klar ist, dieser Schritt hat Folgen. Auf das kirchliche Heiraten musst du jedoch nicht zwingend verzichten.
Désirée Blattmann
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Die Universität Zürich veröffentlichte eine Studie, die 1002 Missbrauchsfälle im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz nachweisen konnte. Dass dies Personen zum Austritt aus der Kirche bewegen könnte, ist klar. «Nach der Aufdeckung der Missbräuche muss man sich sowieso fragen, ob man dieser Institution noch trauen kann», sagt Andreas Kyriacou, Präsident der Schweizer Freidenker-Vereinigung.

Die Kirchenaustritte würden in Zukunft noch zunehmen. «Rechnet man die Zahlen aus der Vergangenheit hoch, dürfte der Anteil von Personen ohne Religion bis in zehn Jahren grösser sein als der von den Katholiken und Reformierten zusammen», so Kyriacou. Das liege vor allem daran, dass junge Menschen immer häufiger ohne religiöse Hintergründe aufwachsen.

Kirchenaustritte nehmen zu 

Der Bevölkerungsanteil ohne Religionszugehörigkeit nimmt in der Schweiz seit Jahrzehnten zu. Dies zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik. Im Jahr 2021 gehörte knapp ein Drittel der Bevölkerung ab 15 Jahren keiner Religion mehr an. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bleibt dieser Anteil in der Schweiz trotz Zunahme eher tief.

Die Gründe, warum Personen aus der Kirche austreten, sind laut dem Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut unterschiedlich. Die meisten geben an, ihren Glauben verloren zu haben, oder sind mit den öffentlichen Stellungsnahmen der Religionsgemeinschaften nicht einverstanden.

Es zeigt sich ein Unterschied zwischen den Alterskategorien. Jüngere Menschen geben an, keinen Glauben – oder diesen verloren zu haben. Personen ab 40 Jahren geben an, dass sie mit den öffentlichen Stellungnahmen unzufrieden sind. Aus finanziellen Gründen treten nur relativ wenige Personen aus. «Die Kirchen müssen sich daran gewöhnen, dass sie nicht mehr für die Bevölkerung repräsentativ sind», sagt Kyriacou.

Immer weniger wollen Kirchenmitglied sein

Auch im Kanton St.Gallen würden sich die Zahlen der Kirchenmitglieder rückläufig entwickeln, sagt Armin Bossart, Präsident der Kirchgemeinde St.Gallen. Die Zahlen der Kirchenmitglieder seien in ganz Europa und somit auch in der Schweiz rückläufig. «Wenn man auf den Kanton St.Gallen blickt, haben wir rund zehn Prozent Mitglieder weniger als in den letzten zehn Jahren.» Im Jahr 2013 habe es noch 234'000 Mitglieder und im letzten Jahr noch etwa 210'000 Mitglieder gegeben.

In der Stadt St.Gallen zeige sich eine noch stärkere Entwicklung. Rund 15 Prozent, sprich 4500 Personen, seien in den letzten Jahren aus der Kirche ausgetreten. «Dazu ist es jedoch wichtig zu wissen, dass dies nicht nur Kirchenaustritte sind, dazu gehören natürlich auch Personen, die nicht mehr Mitglied sind, weil diese verstorben sind», so Armin Bossart.

Noch spüre man keine grossen Veränderungen der Kirchsteuereinnahmen, obwohl die Mitgliederzahlen zurückgehen. «Es ist zwar ein wenig spürbar, jedoch nicht in dem Ausmass, in dem man es erwarten würde.» Das dürfte vor allem daran liegen, dass eher jüngere Personen aus der Kirche ausgetreten seien, die vergleichsweise weniger Steuern zahlen. Mittelfristig sei es jedoch denkbar, dass die sinkenden Kirchensteuereinnahmen Auswirkungen auf das Angebot der Kirche haben wird.

Die Kirchen nehmen die Austrittszahlen in Kauf

«Vielen ist nicht bewusst, dass der Auftraggeber der Studie zu den sexuellen Missbrauchsfällen die Kirche selbst ist.» Dass dies belastende Diskussionen geben werde, sei vorhersehbar gewesen und somit müsse man in Kauf nehmen, dass dies zu weiteren Kirchenaustritten führen würde. Dass diese Fälle ans Licht gekommen sind, sei wichtig und eine schonungslose Aufarbeitung habe man auch gewollt. «Die Kirchenaustritte sind der Preis, der bezahlt werden muss», so der Kirchgemeindepräsident St.Gallen.

Nicht nur für die Kirchen haben die vermehrten Austritte Konsequenzen, auch die Personen, die austreten, müssen sich einige Dinge bewusst sein. «Tritt man aus der Kirche aus, dann verzichtet man auch auf das Recht, die mit dieser Mitgliedschaft verbunden sind», so Bossart. Die kirchliche Eheschliessung würde dann nicht mehr möglich sein. Es sei denn, die Partnerin oder der Partner sei Mitglied der Kirche.

«Es gibt keine Kontrollen an den Türen»

Bei einer Beerdigung sei es etwas komplizierter. «Wenn eine Person verstirbt, die bei Lebzeiten aus der Kirche ausgetreten ist, geht man davon aus, dass diese keine kirchliche Beerdigung möchte.» Es gäbe jedoch Fälle, bei denen die Angehörigen eine kirchliche Beerdigung möchten. Wenn diese Mitglieder der Kirche sind, entscheidet der Seelsorger, ob es eine kirchliche Bestattung gibt.

An einen Gottesdienst zu gehen, sei grundsätzlich nicht verboten. «Es gibt keine Kontrollen an den Türen, wo überprüft wird, ob jemand Mitglied der Kirche ist», sagt Bossart. Aber es sei immer die Frage, ob man denn von den kirchlichen Angeboten profitieren will, wenn man nicht bereit sei, dafür zu zahlen. Das müsse jeder mit sich selbst vereinbaren.

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veröffentlicht: 18. September 2023 07:54
aktualisiert: 18. September 2023 08:21
Quelle: FM1Today

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