Stadt St.Gallen

«Gut gemeint, aber nicht sinnvoll»: Ein Stadtrundgang mit einem Rollstuhlfahrer

· Online seit 24.12.2022, 08:10 Uhr
Treppen, Türen oder Busse: Als Person im Rollstuhl kommen einem immer wieder Hürden in den Weg, welche man zu Fuss nicht so richtig wahrnimmt. FM1Today hat Cem Kirmizitoprak durch die Stadt St.Gallen begleitet – er sitzt selbst im Rollstuhl und ist Leiter der Beratungsstelle Inklusion.

Quelle: TVO/FM1Today

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Beim Einstieg in den Bus zeigt sich bereits das erste Problem, wenn man im Rollstuhl sitzt: «Manchmal geht es, manchmal nicht», erklärt Cem Kirmizitoprak beim Versuch, autonom einzusteigen. Er sitzt seit seiner Geburt aufgrund einer zerebraler Tetraspastik im Rollstuhl. 

Die neuen Busse der Verkehrsbetriebe St.Gallen (VBSG) sind für ihn ein Witz: «Wieso bestellt man neue Busse, wenn diese noch immer nicht rollstuhlgerecht sind?», fragt sich der 30-jährige Leiter der unabhängigen Beratungsstelle Inklusion in St.Gallen.

Mit den Niederflurbussen, welche von den Verkehrsbetrieben St.Gallen seit rund 13 Jahren eingesetzt werden, lasse es sich als Rollstuhlfahrer zwar einfacher einsteigen, man ist laut Kirmiztoprak aber immer noch auf die Hilfe des Personals angewiesen. «Es ist jeweils unangenehm, nachzufragen», findet Kirmizitoprak.

«Mitarbeitende helfen immer gerne»

«Wir legen bei der Ausbildung unserer Fahrerinnen und Fahrer grossen Wert darauf, dass sie lernen, möglichst genau an die Haltekanten zu fahren. Ich würde sagen, in 98 Prozent der Fälle können Rollstuhlfahrende autonom ein- und aussteigen», kontert Ralf Eigenmann, Unternehmensleiter der VBSG. Oberste Priorität für die VBSG sei es, dass die Busse behindertengerecht sind.

Aber: «Wir sind alle Menschen. Es kann also immer vorkommen, dass Fehler passieren. In der absolut überwiegenden Zahl der Fälle stellen wir aber diese Rahmenbedingungen erfolgreich sicher, wenn die Haltekanten dies erlauben. Wir sind aber nicht für die Haltekanten zuständig.»

Und falls es einmal nicht funktionieren sollte, als Rollstuhlfahrerin oder Rollstuhlfahrer autonom einzusteigen, erklärt Eigenmann: «Unsere Mitarbeitenden helfen immer gerne beim Ein- und Aussteigen. Mit den neuen, stärkeren Rampen ist dies auch für schwerere Rollstühle kein Problem.»

Dass die Mitarbeitenden immer gerne beim Ein- und Ausstieg helfen, bestätigt auch Cem Kirmizitoprak.

Treppe wird zum Hindernis

Vor dem Eingang der Ombudsstelle Alter und Behinderung an der Schützengasse befinden sich mehrere Treppenstufen: «Es wurde beim Platz der Ombudsstelle nicht an Barrierefreiheit gedacht», ärgert sich Kirmizitoprak. «Mir wurde gesagt, dass man sich auch per Mail oder Telefon melden kann. So kann die zuständige Ombudsperson einen auch in der Institution oder in der eigenen Wohnung besuchen.»

Dies findet der Leiter der Beratungsstelle Inklusion aber nicht gut: «Ganz ehrlich, ich will keine fremde Ombudsperson in meiner Wohnung haben. Wieso sollte ich das akzeptieren, wenn es die Ombudsstelle Alter und Behinderung nicht zustande bringt, den eigenen Standort an einem barrierefreien Ort zu platzieren?»

Voranmeldung statt Walk-in

Susanne Vincenz-Stauffacher, Ombudsfrau Alter und Behinderung und FDP-Ständeratskandidatin, erklärt: «Hier ist die Geschäftsstelle der Ombudsstelle Alter und Behinderung. Wir haben hier keinen ‹Walk-in›. Die Termine finden immer auf Voranmeldung statt – ob telefonisch, per Mail oder Brief.»

Nach einer ersten Kontaktaufnahme entscheide sie jeweils, wo die Besprechung stattfindet, falls es eine braucht. «Wenn eine Person kein Handicap hat, treffe ich mich mit ihr direkt hier in der Ombudsstelle Alter und Behinderung», so Vincenz-Stauffacher.

Bei über 50 Prozent der Fälle besuche sie jedoch die Personen im ganzen Kanton St.Gallen und beiden Appenzell: «Vor allem, wenn diese in einem Heim betreut werden. Falls jemand aber eine Beratung in der Stadt St.Gallen bevorzugt, haben wir hier entsprechende Sitzungsräume bei unseren Mitgliedsorganisationen – auch mit Barrierefreiheit.»

Mit voller Wucht gegen die Tür

Beim Amtshaus an der Neugasse sieht Kirmizitoprak das nächste Problem: «Die erste Türe ist elektronisch und geht von alleine auf, die nächste muss man jedoch selbst öffnen.»

Da Kirmizitoprak nur eine Hand bewegen kann, ist es für ihn nicht möglich, die Türe offen zu halten: «Ich muss immer aufpassen, dass mir die Türe nicht mit voller Geschwindigkeit gegen den Rollstuhl schlägt.»

Für ihn ist die Lösung klar: «Entweder braucht es eine andere Türe oder man automatisiert die bisherige Pendeltüre.»

Barrierefreie Stadt bis 2030

Für den zuständigen Stadtrat Markus Buschor, Direktion Planung und Bau, ist klar, dass die Pendeltüre beim Amtshaus unpraktisch ist. Aber sie einfach wegzunehmen, gehe aufgrund der Denkmalpflege nicht. Ausserdem würde es sonst im Gebäude ziehen: «Es ist keine ideale Situation. Aus diesem Grund werden im Auftrag des Stadtrats Abklärungen gemacht, wie dieser Eingang automatisiert werden kann.» Verhältnismässig sei es jedoch mit einem grossem Aufwand verbunden.

«Wenn man aber das Ziel hat, dass die Stadt St.Gallen hinderisfrei wird, muss man auch den einen oder anderen grossen Aufwand in Kauf nehmen», so Buschor. Das Ziel der Stadt St.Gallen ist es, bis 2030 eine barrierefreie Stadt zu ermöglichen.

«Sind immer froh über Rückmeldungen»

Jaqueline Wenger, Fachspezialistin für Alter und Behinderung bei der Stadt St.Gallen, findet, dass es beim Thema Barrierefreiheit in der Stadt St.Gallen noch einiges zu tun gibt, man aber trotzdem auf einem guten Weg sei. «Die Stadt ist gross und es gibt unterschiedliche Baustellen, weswegen wir immer froh über Rückmeldungen sind.»

Aktuell sei die Stadt St.Gallen verwaltungsintern, aber auch mit den verschiedenen Fachstellen, dabei herauszufinden, wo es noch weitere Hindernisse in der Stadt gibt. Ebenso werden Direktbetroffene dazu geholt, um schneller in Richtung Barrierefreiheit zu kommen. «Es ist ein Kontinuum. Aus diesem Grund sind wir auch im ständigen Austausch mit Fachstellen und Direktbetroffenen», so Wenger.

Auch das Tiefbauamt und das Hochbauamt seien bei Neubauprojekten im regen Austausch mit Procap: «So schauen wir, dass die Normen bei Neubauten auch eingehalten werden.»

«Es gibt noch viel zu machen»

«Natürlich kann ich mich alleine durch die Stadt bewegen, das ist kein Problem. Es ist einfach schade, dass nicht alle öffentlichen Gebäude barrierefrei sind», so der 30-jährige St.Galler Kirmizitoprak. Die grösste Baustelle in der Stadt St.Gallen – was die Behindertenfreundlichkeit angeht – sieht er darin, dass Fachpersonen für «einen sprechen».

Der Leiter der Beratungsstelle Inklusion findet, dass Personen mit Beeinträchtigung sich selbst vertreten sollten. «Die Stadt sollte die betroffenen Personen direkt ansprechen und mit ihnen Lösungen finden. Denn wir wissen genau, was man verbessern kann», erklärt Kirmizitoprak.

«Es gibt noch viel zu machen, dass die Stadt St.Gallen komplett barrierefrei wird. Noch viel mehr, als die drei Beispiele, welche wir heute gesehen haben», so Kirmizitoprak zum Abschluss.

veröffentlicht: 24. Dezember 2022 08:10
aktualisiert: 24. Dezember 2022 08:10
Quelle: FM1Today

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