Toggenburger Altersheim

Senioren sollen umziehen: «Ein Schlag ins Gesicht für uns»

04.02.2022, 23:07 Uhr
· Online seit 04.02.2022, 19:04 Uhr
Das Altersheim Bellevue in Wildhaus soll unter Umständen temporär geschlossen werden. Doch die acht Bewohnenden, die meisten über 90, möchten ihr Zuhause auf keinen Fall verlassen. Der Fall sorgt für einen Interessenskonflikt zwischen Heimbewohnenden und der Gemeinde im Obertoggenburg.

Quelle: FM1Today

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Mächtig wirken die schneebedeckten Churfirsten, wie sie über dem Obertoggenburger Tal thronen. Zwischen den Gipfeln von Chäserrugg, Zuestoll, Frümsel und Co. blinzelt dann und wann die Sonne durch den wolkenverhangenen Himmel.

Wer auf der Holzbank hinter dem Altersheim Bellevue sitzt und die Szenerie in südwestlicher Richtung betracht, dem huscht gelegentlich ein Sonnenstrahl über das Gesicht, wo dieser selbst in der kalten Winterzeit ein wohlig warmes Gefühl auf der Haut hinterlässt. Der Name des Wildhauser Altersheims Bellevue kommt nicht von ungefähr.

Es sind genau diese Momente, die der 93-jährige Hannes Frey so schätzt am Bellevue. Seit drei Jahren lebt er hier, weg will er nicht mehr. «Ich habe hier eine zweite Heimat gefunden, wir sind hier beinahe eine intakte Familie», sagt er. Man kenne sich, wisse wie die anderen ticken und könne sich auch einmal trösten an schlechten Tagen.

«Ein Schlag ins Gesicht»

Die Nachricht, dass sie unter Umständen bald umziehen müssen, sei «ein Schock und ein Schlag ins Gesicht» gewesen. Doch wieso steht diese Option überhaupt im Raum? Die Geschichte ist im Grunde rasch erzählt: Das Altersheim Bellevue in Wildhaus gibt es seit 2015, entstanden als Zwischenlösung, weil ein privates Heim geschlossen hat und für dessen Bewohner rasch eine Unterkunft gefunden werden musste.

Von Beginn weg war das Bellevue jedoch als Übergangslösung und nur als Ergänzung zum zweiten, grösseren Altersheim-Standort Im Horb, nur wenige Autominuten talabwärts in Alt St.Johann gelegen, gedacht.

«Wir wissen seit es das Bellevue gibt, dass die Situation mit zwei Standorten nicht optimal ist», sagt der Gemeindepräsident von Wildhaus-Alt St.Johann, Rolf Züllig. Die ohnehin prekäre Personalsituation im Pflegebereich stelle die Gemeinde vor grosse Herausforderungen. Nochmals schwieriger geworden sei der Betrieb beider Standorte durch die Coronapandemie.

Die Angst, nie mehr zurückzukehren

Daher zieht der Gemeinderat um Züllig in Betracht, den Standort Bellevue temporär zu schliessen. Um den Aufwand zu verringern, so dass die optimale Betreuung auch mit weniger Mitarbeitenden gewährleistet werden kann. Züllig versichert im Gespräch mit FM1Today, dass eine permanente Schliessung des Bellevue aktuell nicht zur Diskussion steht: «Wir geben den Standort nicht auf, wir wollen uns aber vorübergehend auf den Standort Horb konzentrieren. Sobald sich die Personalsituation entschärft, machen wir im Bellevue weiter.»

Doch dieser Aussage scheinen die Heimbewohnenden nicht ganz zu trauen. Die Angst ist gross, dass sie bei einem Umzug ins Horb vielleicht nie mehr ins Bellevue zurückkehren dürfen. Auch wenn Gemeindepräsident Züllig derzeit das Gegenteil versichert, Fakt ist, dass die Gemeinde plant, dereinst beide Standorte zugunsten eines grösseren Neubaus in der Gemeinde zu schliessen.

Züllig erklärt das Vorhaben: «Das wird intensiv diskutiert, der Zeithorizont beträgt für dieses Projekt aber drei bis fünf Jahre. Für eine Zusammenlegung gibt es viele Gründe. An beiden Heimstandorten ist beispielsweise die Infrastruktur nicht ideal.» Unbestritten ist auch, dass der Betrieb zweier Standorte in finanzieller Hinsicht für Mehraufwand sorgt. «Wir brauchen nicht direkt doppelt so viele Angestellte, aber der Aufwand ist natürlich grösser», sagt Züllig. Zudem ist auch der Standort Horb nicht optimal: «Das Horb liegt an einem Ort, wo man heute vermutlich kein Altersheim mehr bauen würde», räumt Züllig ein.

«Ältere Leute werden abgeschoben»

Hier sind sich der Gemeindepräsident und die Heimbewohnenden einig. Das Altersheim Horb liegt wenige Kilometer talabwärts, ein wenig ausserhalb von Alt St.Johann. Und damit einige Höhenmeter tiefer im Talkessel, dementsprechend sind die Sonnenstunden im zudem von einer steilen, bewaldeten Wand flankierten Heim deutlich weniger. Kein Vergleich zum am Wildhauser Dorfplatz gelegenen Bellevue, wo beispielsweise auch die Postautohaltestelle einfacher zu erreichen ist und den Seniorinnen und Senioren so mehr Mobilität ermöglicht.

Bellevue-Bewohner Hans Forrer sagt deutlich, was er vom Standort Horb hält: «Ich finde es einen Blödsinn, wenn die älteren Leute abgeschoben werden, soweit weg vom Geschehen wie nur möglich. Wir sind ja auch ein Teil der Gesellschaft. Der Standort ist für mich sehr wichtig, hier kann ich selbstständig mit dem Postauto zum Arzt, was sonst nicht mehr möglich ist.»

Wie ernst es den Bewohnerinnen und Bewohnern mit dem Widerstand und dem Willen zum Verbleib im Bellevue ist, zeigt die Eigeninitiative der Seniorinnen und Senioren. Mit einem Leserbrief im Toggenburger Tagblatt machten sie auf ihre Situation aufmerksam.

Noch einen Schritt weiter geht die 92-jährige Ruth Roth. Mit einem handgeschriebenen Brief will sie bei der Suche nach Pflegekräften mithelfen. «Ich hoffe, dass jemand vom Pflegepersonal meinen Text mit dem Computer schreiben kann und dass wir ihn dann im Coop und im Spar und überall sonst aufhängen können. Und sich dann vielleicht jemand meldet, der hier arbeiten möchte», erklärt sie und ist dabei den Tränen nahe.

Die Entscheidung ist noch nicht gefallen

Gemeindepräsident Rolf Züllig hat durchaus Verständnis für die Situation der älteren Menschen. Er beteuert: «Wenn es irgendwie geht, das kann ich versprechen, dann muss kein einzelner älterer Mensch das Bellevue verlassen. Das ist ganz eine ehrliche Absicht. Aber wir müssen in unserer Verantwortung als Gemeinderat sicherstellen, dass die optimale Pflege gewährleistet ist.»

Wann die definitive Entscheidung erfolgt, ist noch nicht klar. Vermutlich wird sich aber bereits in den kommenden Wochen zeigen, ob es beim Lippenbekenntnis des Gemeindepräsidenten bleibt – oder ob die Seniorinnen und Senioren tatsächlich in ihrem geliebten Bellevue bleiben dürfen.

Quelle: tvo

veröffentlicht: 4. Februar 2022 19:04
aktualisiert: 4. Februar 2022 23:07
Quelle: FM1Today

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