47 Jahre Pöstler

«Den letzten Brief werfe ich zu Hause ein»

22.12.2019, 07:34 Uhr
· Online seit 22.12.2019, 07:24 Uhr
Peter Hollenstein stellt seit fast einem halben Jahrhundert Briefe zu. Einen anderen Arbeitgeber als die Post hatte er Zeit seines Lebens nicht. Wir durften ihn auf seiner letzten Tour begleiten.
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Eilig lädt er die grauen Kisten mit den Briefen in die Boxen auf seinem gelben E-Roller. Mit einem weiteren Handgriff schnallt er sich seinen ebenfalls gelben Helm auf den Kopf. Peter Hollenstein verliert nicht viel Zeit, hat er nie getan. Und er wird nach 47 Jahren ganz sicher nicht an seinem letzten Arbeitstag damit beginnen.

Er setzt sich auf seinen postfarbigen Roller. «Die sind wirklich super. Nur Fridolin war besser», sagt Hollenstein. Das sei keineswegs ein Witz, das Auto hiess wirklich so. Der VW Fridolin war lange Zeit das Auto der Briefträger, es überzeugte laut Hollenstein vor allem durch seine Schiebetüren. 

Hollenstein dreht am Gashebel und fährt aus dem Verteilzentrum in Aadorf. Der gebürtige Thurgauer aus Oberwangen ist 62 Jahre alt und hat heute seinen letzten Arbeitstag. Er ist Pöstler durch und durch: Nie hat er einen anderen Beruf ausgeübt.

Nun dreht er seine Ehrendrunde. Ein letztes mal wird er Grosskindern den Weihnachtsbatzen vom Grosi bringen. Ein letztes mal bekommen die zu Hause gebliebenen Aadorfer eine Postkarte aus der Karibik von Hollenstein zugestellt, das letzte mal legt er den Lehrvertrag für eine Sekschülerin in den Briefkasten.

«Es schnorrt dir keiner drein»

Er kennt zwar viele der Briefempfänger persönlich – kein Wunder, nach all den Jahren – aber gesagt hat er ihnen nichts. «Kürzlich wurde ein Kollege pensioniert. Der kam an dem Tag erst um halb zehn in der Nacht nach Hause», sagt Hollenstein. 

Für ihn sei das nichts. Hollenstein ist ohnehin ein genügsamer Typ. Auf und Abs gebe es überall. Er sei aber immer gerne Pöstler gewesen, sonst wäre er kaum so lange dabei geblieben. «Gartenbauer hat mich auch mal interessiert», erinnert er sich. Er habe die Entscheidung für die Post aber keine Sekunde lang bereut.

«Als Pöstler bis du mehr oder weniger selbständig. Wenn du draussen bist, schnorrt dir keiner drein.» Und: So ein handgeschriebener Brief sei immer noch etwas besonderes. «Das ist doch was anderes wie so eine SMS», sagt Hollenstein, der freilich kein Handy besitzt.

Der letzte Brief geht an den Pöstler selbst

Nach einer kurzen Fahrt stellt er seinen gelben Roller ab und steigt vom Sattel. «Hier wohne ich», sagt der Pöstler. Er greift nach einem einzelnen Couvert und läuft zur Tür.  Er scheint langsamer zu gehen als zuvor. In der Küche gibt es aber kein Zögern mehr, Hollenstein knallt den Brief an sich selbst auf den Tisch. 

Der Ton des aufschlagenden Briefes beendet eine Pöstlerkarriere, die fast ein halbes Jahrhundert gedauert hat. Jetzt ist Schluss, Peter Hollenstein geht mit 62 Jahren in Pension. Wehmütig ist er nicht: «Ich fühle mich super. Befreit. Ich kann jetzt machen, was ich will und muss am Morgen nicht mehr um Viertel vor Fünf aufstehen.»

Vielleicht stelle er sich aber einfach den Wecker, um danach weiterzuschlafen, scherzt der frisch pensionierte. Obwohl es ihm bestimmt nicht langweilig werde: «Vielleicht helfe ich nächstes Jahr einem befreundeten Gartenbauer.»

Oder Peter Hollenstein hütet sein neustes Grosskind. Seine Tochter ist hochschwanger. «Eigentlich müsste es langsam kommen», sagt er. Vielleicht kommt es ja mit dem Christkind. Denn ganz alles kann der Pöstler nicht zustellen, und wenn er noch so erfahren ist.

veröffentlicht: 22. Dezember 2019 07:24
aktualisiert: 22. Dezember 2019 07:34
Quelle: FM1Today

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