Reportage

Zwischen Wohnwagen, Wassertanks und Morgenmänteln

25.05.2021, 09:27 Uhr
· Online seit 22.05.2021, 10:14 Uhr
Der Wunsch nach Freiheit ist gerade riesig. Aber findet man sie in einem Anhänger mit ein paar Quadratmetern Wiese vor der Türe? Ja, sagen die Leute, die auch bei Regen am liebsten auf dem Campingplatz Ferien machen. Ein Besuch in Altnau am Bodensee.
Anzeige

Eine raue Felsklippe. Unten schlägt die Gischt des Meeres gegen den Stein, oben steht ein Wohnmobil in der Abendsonne. Wohnen – egal, wo man gerade ist. Absolute Freiheit! Was in der Werbung als Alltag einer jeden Camper-Besitzerin dargestellt wird, ist an diesem Freitagmorgen ein Wunschtraum. Einer, der so flüchtig ist wie die Sonne dieser Tage.

Die Realität auf dem Campingplatz Ruderbaum in Altnau am Bodensee ist eine andere: Die vielen verschlossenen Wohnwagen liefern sich mit dem grauen Himmel ein Duell, wer das traurigere Bild zu vermitteln vermag. Am Fusse des leicht abfallenden Campingplatzes liegt träge der See. Auch er vermag an diesem regnerischen Morgen keine Ferienstimmung aufkommen lassen. Selbst wenn immer wieder kleine Wellen hörbar ans Ufer schwappen – eine Gischt, die wild gegen Felsen prallt, ist es noch lange nicht.

«Das macht mich schon traurig»

Der einzige Farbtupfer ist Daniela Bieder, 46. Die gebürtige Deutsche ist seit diesem Jahr Verwalterin des Campingplatzes Ruderbaum und führt mit roter Funktionsjacke zwischen den Wohnwagen hindurch. «Das Wetter im Moment macht mich schon traurig», sagt sie, während unter ihren Füssen das Kies knirscht. «Letztes Jahr hatten wir so schönes Wetter – doch dann kam Corona und wir durften die Plätze nur für Dauermieter freigeben.» Jetzt darf sie zwar wieder für alle öffnen, aber ein Campingplatz bei Regen ist ähnlich wie ein Skilift im Sommer. Irgendwie seiner Funktion beraubt.

Und auch die Keramikfiguren vor den Wohnwagen vermögen das Bild nicht wirklich aufzuhellen. Da können die Zwerge und Schafe noch so gut gelaunt in den Thurgauer Regenhimmel strahlen. Wenn ihre Besitzer den Platz nicht beleben, sind auch sie nur stumme Zuschauer mit leerem Blick. «Ich bin jemand, die Menschen mag. Jubel, Trubel, Heiterkeit», sagt Bieder. Etwas, das im Moment weit weg scheint.

In der Pischi-Hose beim WC-Hüsli

Immerhin ein paar Menschen treffen wir auf unserem Rundgang an. Da ist der Herr mit den karierten Pyjama-Hosen, der gerade seinen Wassertank auffüllt. Minuten später kommt er mit einem Necessaire unter dem Arm zurück, um sich bei den Sanitäranlagen zu erfrischen. Oder die Dame im roten Morgenmantel, die schnell in ihrem Vorzelt verschwindet, als wir vorbeilaufen. Szenen, wie man sie sonst wohl nur aus dem eigenen Badezimmer kennt.

Liegt vielleicht hier die Freiheit des Campens? Dass die Grenzen der Konventionen verschwimmen und man nicht mehr nur in seinen vier Wänden lebt – sondern auf dem ganzen Platz? Dies würde Thomas Zaugg aus Bülach im Kanton Zürich wohl bestätigen. Er kommt schon seit sechs Jahren auf den Campingplatz am Bodensee und ist auch jetzt wieder über Pfingsten zu Besuch. Beim Campen verbringe man die meiste Zeit eh draussen, bei Ausflügen zum Beispiel. «Hauptsache in der Natur», sagt Zaugg. Und manchmal würden sie auch zum «poschte» nach Konstanz gehen, das könne man ja jetzt wieder.

Bis zu 300 Anfragen für Pfingsten

Aber nicht nur die Schweizerinnen und Schweizer gehen nach Deutschland – sondern auch andersrum. Daniela Bieder sagt, sie habe momentan sehr viele Anfragen aus Deutschland. «Da sind die Campingplätze meines Wissens noch nicht wieder offen – und so kommen die Deutschen zu uns.» Denn ihr Campingplatz habe einen grossen Vorteil. «Man kann bei uns nicht reservieren.» Ähnlich wie bei einem Coiffeurgeschäft, das mit «Heute noch Termine frei»-Schildern wirbt, kann man auch beim Ruderbaum einfach vorfahren und hoffen, dass noch Platz genug da ist.

Natürlich birgt dieses Modell auch Nachteile. So hatte Bieder für Pfingsten bereits bis zu 300 Anfragen für eine Reservation. «Denen mussten wir allen sagen, dass wir keine Reservierungen entgegennehmen.» Die Hoffnung, dass die Leute trotzdem kommen, wird natürlich mit jedem Regentropfen etwas gemindert. Und trotzdem dürfte Daniela Bieder auf eine gute Saison blicken. Denn die Nachfrage nach Camping sei seit Corona stark angestiegen. Dabei kämen immer mehr Leute nicht mehr mit dem klassischen Wohnwagen, sondern mit irgendeinem Gefährt, in dem man übernachten könne. «Letztens hatten wir zwei Mädels, die haben in einer Ente (ein alter Citroen) übernachtet. So nach dem Motto: Hauptsache raus.»

Das Bierchen in der Werkstatt

Die Tour mit Daniela Bieder durch den fast leeren Campingplatz macht, trotz immer stärker werdendem Regen, irgendwie doch Freude. Wir sehen einen akkurat abgedeckten Rasenmäher, wie man es sonst nur von Motorrädern kennt, entdecken bepflanzte Parzellen, wie man sie sonst nur aus Wohnquartieren kennt und passieren Schweizerfahnen, wie man sie sonst nur aus Schrebergärten kennt. Denn viele von Daniela Bieders Gästen sind nicht einfach nur auf der Durchreise, sondern Dauermieterinnen.

So zum Beispiel auch das Ehepaar Fausch aus Weinfelden. Beide über 70 – dieses Jahr die 34. Saison auf dem Campingplatz Ruderbaum. Martha Fausch, langes, wallendes T-Shirt, tritt in Hausschuhen vor das Vorzelt, als sie uns kommen sieht. Ihr Mann, Andreas Fausch, muss sich zuerst einen Pullover über das weisse Unterhemd ziehen, bevor er sich dazugesellt. Er ist der Typ «gmögiger Büetzer», sie wirkt, als würde sie den Ton angeben. Gut die Hälfte des Jahres verbringen die Fauschs auf dem Campingplatz. Meistens von April bis Oktober/November.

Auch sie geniessen die Natur beim Campen. «Er geht Velofahren, ich bei schönem Wetter schwimmen», so Martha Fausch. Und ihr Mann erzählt, dass er eine kleine Werkstatt auf dem Campingplatz habe und ergänzt mit schelmischem Lachen: «Dort gibt es manchmal auch ein kleines Bierchen.» Vom Touristenstrom, der dieses Wochenende kommen könnte, kriegen die Fauschs nicht viel mit. «Wir haben keinen Kontakt zu den Touristen – aber unter den Dauermietern kennt man sich natürlich schon.» Angesprochen auf die engen Platzverhältnisse sagen auch sie: «Wir schlafen nur im Wohnwagen. Leben tun wir im Vorzelt oder dann draussen.»

Und ja, es hört sich tatsächlich nach Freiheit an. Eine Freiheit, die man wohl als eine Art «Schweizer Freiheit» bezeichnen könnte. Es gibt auf dem Campingplatz zwar klare Grenzen und auch Regeln – aber sie verschwimmen. Die Platzverhältnisse werden nicht übergenau genommen und wenn jemand den Grill anwirft, so kann es gut sein, dass die Nachbarn mitessen.

Eine Geselligkeit, wie sie sich Daniela Bieder sehnlichst zurückwünscht. Während sie eine Zigarette raucht (die sie anschliessend sauber in der Bauchtasche wieder mitnimmt), schauen wir uns die Vitrine mit den Campingplatz-Angeboten an. «Spielenachmittag für Erwachsene», «Stand Up Paddle», oder «Lampionumzug» steht da. Aktivitäten, die alle draussen stattfinden können und somit corona-technisch kein Problem sein sollten. Doch damit das fröhliche Miteinander ungezwungen ausgelebt werden kann, muss das Wetter jetzt erst mal besser werden. Und dann kann man sich auch in einem Raum mit ein paar Quadratmetern Wiese vor der Türe so richtig frei fühlen.

veröffentlicht: 22. Mai 2021 10:14
aktualisiert: 25. Mai 2021 09:27
Quelle: FM1Today

Anzeige
Anzeige