Schweiz

«Deutsch und Welsch waren bei uns immer gemischt»

«Deutsch und Welsch waren bei uns immer gemischt»

08.09.2017, 10:08 Uhr
· Online seit 08.09.2017, 09:46 Uhr
Thomas Raaflaub koordiniert im Kanton Bern den Sprachaustausch an den Schulen. Zu Hause ist der Brückenbauer auf beiden Seiten der Sprachgrenze.
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Ein Freund aus der Westschweiz, so erzählt Thomas Raaflaub in wohlklingendem Berner Dialekt, habe ihm gesagt: «Du bist ja gar kein richtiger Deutschschweizer.» Und Raaflaub fragte sich: «Bin ich also ein Romand mit falscher Muttersprache?» Nein, er habe ja auch seinen Dialekt und die deutsche Hochsprache sehr gern.

Quintessenz: Schubladisiert werden möchte Raaflaub nicht, auch was die Sprache anbelangt. Er lehnt sich zurück und schaut vom Balkon auf den Neuenburgersee hinaus. Sein Häuschen in Estavayer steht ganz nah am Wasser. Hier ist er ebenso zu Hause wie in Feutersoey bei Gstaad im Berner Oberland. Dialekt und Französisch fliessen bei ihm gewissermassen zusammen. «Das ist mir wichtig», sagt Raaflaub. Wichtig auch, weil er von Berufs wegen mit diesen beiden Landessprachen jongliert.

Deutsch zu Welsch und umgekehrt

Seit zehn Jahren ist Thomas Raaflaub im Kanton Bern Koordinator im Sprachaustausch. Er setzt sich dafür ein, dass in Familien und an Schulen Deutsch und Französisch auch über die Kantonsgrenzen hinaus durcheinanderwirbeln und sich vermischen.

Brücken bauen, das ist sein Metier, mithelfen, dass Schülerinnen und Schüler die Sprachgrenze überwinden lernen. Dass Deutsch zu Welsch findet und umgekehrt. Wie ein Partnervermittlungsinstitut, scherzt Raaflaub, bringe er die Jugendlichen zusammen, wobei er betont, dass sie sich mit Hilfe von Identitätskarten selber finden.

«2 langues - 1 Ziel» heisst das Programm mit Walliser Wurzeln, bei dem der Kanton Bern mit dem Wallis seit sechs Jahren kooperiert. 8000 Schülerinnen und Schüler seien in dieser Zeit ausgetauscht worden, sagt Raaflaub.

Inzwischen ist das Programm auch auf andere Kantone ausgedehnt worden. Und so läuft das jeweils ab: Zwei Schülerinnen oder Schüler besuchen sich je viereinhalb Tage, wohnen in der anderen Familie, besuchen die Schule am fremden Ort. So kommen sie - das ist das vorrangige Ziel des Austauschs - mit der anderen Sprache in Kontakt.

Es geschehe aber viel mehr, nämlich «ein Kulturaustausch im umfassenden Sinn», betont Raaflaub voller Begeisterung. Die Jugendlichen sehen, wie eine andere Familie funktioniert, was sie isst, wie sie kommuniziert, den Alltag organisiert. Grenzerfahrung, Lebensbildung sei das - einerseits weil es Flexibilität brauche, sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden, anderseits weil die Jugendlichen lernten, die eigene Familiensituation differenzierter zu beurteilen.

Willensnation Schweiz

Thomas Raaflaub ist der geborene Netzwerker. Dass er sich berufen fühlt, Menschen über die Sprachgrenze hinweg zusammenzubringen, hat auch familiäre Gründe. «Meine Familie väterlicherseits stammt aus dem Saanenland, das zur Grafschaft Greyerz gehörte. Viele Wörter unserer Sprache kommen aus dem Französischen», erzählt er. Seine Grossmutter mütterlicherseits kam aus dem Elsass, sein Grossvater aus dem Badischen. «Deutsch und welsch waren in unserer Familie immer gemischt. Darüber bin ich froh.»

Früh, schon als Lehrer und Schulleiter in Feutersoey, suchte Raaflaub den Austausch. Er habe sich dafür interessiert, wie man in Genf lebt oder wie in der Waadt unterrrichtet wird. «Als ich Gelegenheit hatte, einen Austausch mit einer Schule in Genf zu machen, habe ich keinen Augenblick gezögert.» Dieser Austausch sei nötig, ist Raaflaub überzeugt. «Die Schweiz ist eine Willensnation. Wir existieren nur, weil wir zusammenleben wollen.»

Gezögert hat Raaflaub auch nicht, als im Kanton Bern zwei Stellen für Austauschkoordinatoren ausgeschrieben waren. Er bewarb sich für die deutsche Seite und wurde zusammen mit seinem Kollegen Alexandre Mouche angestellt. Seit zehn Jahre bilden die beiden ein bestens eingespieltes zweisprachiges Team, das sich auf permanenter Werbetour befindet.

Etwa in Belp BE, wo die beiden Koordinatoren im Oberstufenzentrum ein Vorbereitungstreffen mit Schülerinnen, Schülern und deren Eltern einberufen haben. Mit dabei sind die Partnergemeinden Belp und Farvagny FR, Colombier NE und Langenthal BE sowie Interlaken BE und Bellelay BE.

Die Familien wollen sich kennenlernen und im Gespräch wappnen für den neuntägigen Austausch. Die Gemeinden beteiligen sich am Pilotprojekt «Sprachbad - Immersion», das sich am Programm «2 langues - 1 Ziel» orientiert. Während dieses 7.-Klässler anspricht, richtet sich «Sprachbad - Immersion» ergänzend an Schülerinnen und Schüler der 5., 6., 8. und 9. Klasse.

Kühlschrank voll?

Mittlerweile hat sich die Aula im Belper Oberstufenzentrum gefüllt, Deutsch und Französisch fliegen durcheinander. Auf der Bühne haben Thomas Raaflaub und Alexandre Mouche Stellung bezogen, begrüssen zweisprachig und erläutern den Ablauf des Austauschs.

Die einen Eltern bringen ihre Tochter, ihren Sohn am Samstag in die Austauschfamilie ennet der Sprachgrenze. Dabei können sie überprüfen, ob der Kühlschrank voll ist, die Matratze weich, wie Raaflaub und Mouche sich humorvoll ausdrücken. Am Mittwoch darauf erfolgt der Tausch. Und dann, «am zweiten Sonntag, holen die anderen Eltern ihr Kind in der Gastfamilie wieder ab - oder lassen es dort. C’est moins cher».

Dass Raaflaub und Mouche bei den Vorbereitungstreffen mit ihrer ungezwungenen Art Vertrauen ernten, zeigt sich jeweils im Nachhinein. Bisher habe sich noch keine Familie, einmal dabei, aus dem Programm verabschiedet, sagt Raaflaub. Natürlich brauche ein Austausch eine gewisse Überwindung. «Die Familie muss bereit sein, ein fremdes Kind aufzunehmen, das eigene in eine fremde Familie abzugeben.» Das sei nicht immer einfach. «Dann aber öffnen sich die Türen, und es weht ein frischer Wind.»

Diese Erfahrung hat Thomas Raaflaub auch selbst gemacht, in Estavayer, in anderem Zusammenhang. Hier verbrachte er jeweils mit seinen Eltern die Ferien. «Eine Integration hat es aber nie gegeben. Wir waren Touristen.» Als er mit seiner eigenen Familie 2012 das Haus am See von den Eltern übernahm, wollte Raaflaub das ändern. Er abonnierte die Zeitung «Le Républicain» und stiess darin auf ein Inserat des Projekts «EstaSympa», das eine Integrationsausbildung anbot.

Raaflaub meldete sich und hilft seither, die Gemeinde sympathisch zu machen. Konkret: Er hat den Literaturclub für Einheimische ins Leben gerufen. Der Club, zurzeit sind es fünf Leute, trifft sich einmal im Monat und liest deutschsprachige Bücher. Phänomenal sei es vor allem, wie er sich dank diesem Engagment in die Gemeinde habe integrieren können, schwärmt Raaflaub. «Und ich konnte auch hier etwas zum Austausch beitragen.»

Verfasser: Karl Wüst, sfd

veröffentlicht: 8. September 2017 09:46
aktualisiert: 8. September 2017 10:08
Quelle: SDA

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