Berufseinstieg

Fertig mit viel Arbeit für wenig Lohn – Praktika verschwinden bald

· Online seit 04.09.2023, 07:25 Uhr
Viele Branchen ächzen unter dem Fachkräftemangel. Gleichzeitig sind tausende Praktikumsstellen ausgeschrieben. Fachpersonen gehen davon aus, dass die Masse an offenen Jobs zahlreiche Praktikumsplätze schlucken wird.
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Freude und Frust liegen bei Praktika nahe beieinander. Praktikantinnen und Praktikanten können Berufserfahrung sammeln. Gleichzeitig müssen sie für einen tiefen Lohn oft fast gleich viel leisten wie ihre fest angestellten Kolleginnen und Kollegen. Wer die Aussicht auf eine Festanstellung hat, zählt zu den Glücklichen. Manche Berufseinsteigende hangeln sich deshalb als «billige Angestellte» von Praktikum zu Praktikum.

Alleine auf dem Stellenportal Jobscout 24 sind schweizweit aktuell über 3000 Praktikumsstellen ausgeschrieben. Zugleich ächzen viele Branchen unter dem Fachkräftemangel. Entspannt sich die Lage nicht, wird die Masse an offenen Jobs viele Praktikumsstellen schlucken.

Trainee-Programme statt Praktika

«Je knapper Arbeitskräfte sind, desto einfacher findet man eine Festanstellung und desto geringer dürfte die Nachfrage nach gewissen Praktika sein», sagt Patrick Leisibach, Arbeitsmarktexperte bei der Denkfabrik Avenir Suisse, zur Today-Redaktion.

Der Arbeitskräftemangel verschiebe die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt verstärkt zugunsten der Arbeitnehmenden, sagt Leisibach. Es sei anzunehmen, dass sich dies auch auf dem Praktikumsmarkt bemerkbar mache. «Damit gewisse Praktika attraktiv bleiben, müssen Unternehmen diese allenfalls besser vergüten und interessantere Aufgaben anbieten.» Zudem hätten Praktikantinnen und Praktikanten in der aktuellen Situation bessere Chancen für eine anschliessende Festanstellung.

Mittelfristig hält Leisibach es für möglich, dass Unternehmen häufiger sogenannte Trainee-Programme anstatt Praktika anbieten werden oder müssen. «Diese Programme wären dann für Unternehmen die Möglichkeit, sozusagen mit einer Art ‹attraktiverem Praktikum mit Perspektive›, interessierte Absolventen anzuziehen.» Gleichzeitig seien diese auch für die Absolventen oft ziemlich attraktiv ausgestaltet. «Trainee-Programme sind in der Regel länger individuell abgestimmt, besser bezahlt und sehen eine langfristige Beschäftigung im Unternehmen vor.»

Generation Z und die grosse Auswahl

Betroffen von der Entwicklung ist vor allem die Generation Z, die aktuell und in den nächsten Jahren ins Berufsleben einsteigt. Diese jungen Menschen legen grossen Wert auf sinnstiftende Arbeit und eine gute Work-Life-Balance.

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Jakub Samochowiec befasst sich als Senior Researcher am Gottlieb Duttweiler Institut mit wirtschaftlichen Veränderungen. Die unverbindliche Kennenlernphase, die Praktika böten, sei in einem Umfeld des Arbeitskräftemangels durchaus weiterhin sinnvoll, sagt er. Dies jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. So hätten Arbeitnehmende in einem Arbeitnehmermarkt eine grössere Auswahl und wollten sich deshalb, ob Generation Z oder nicht, nicht so schnell festlegen.

Für Unternehmen, die ohnehin Mühe hätten, Arbeitskräfte zu finden, plädiert Samochowiec für reduzierte Einstiegshürden. «Sei das durch den Verzicht auf ein Praktikum oder auf formale Anforderungen wie Diplome.»

«Nicht mehr bereit zu Praktika»

Der Wandel beschäftigt auch Pascal Huber, Geschäftsführer der Fundamensch GmbH, einer Beratungsfirma rund um Themen der neuen Arbeitswelt. Er stellt fest, dass Unternehmen und gewisse Branchen in der Vergangenheit teilweise begonnen hätten, Praktika auszureizen und auch auszunutzen, da genügend Arbeitskräfte auf dem Markt vorhanden gewesen seien.

Huber: «So hatte man billigere Arbeitskräfte für gewisse Aufgaben.» Der Sinn des eigentlichen Praktikums sei aber nicht mehr gegeben gewesen. «Da man voraussetzte, dass für den Erhalt gewisser Jobs ein vorheriges Praktikum im Unternehmen Standard war – unabhängig davon, was jemand mitbrachte.»

Nun verändere sich der Markt, sagt Huber. «Wir sprechen von Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel.» Entsprechend stiegen die Verhandlungspotenziale der Arbeitnehmenden und sie könnten Forderungen stellen. «Dies führt dazu, dass sie nicht mehr bereit sind, Praktika zu absolvieren, da diese häufig schlecht entlohnt sind, sie fordern immer mehr direkte Festanstellungen respektive bewerben sich direkt auf diese.»

«Mehr als Kaffeekochen»

Der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) begrüsst auf Anfrage, «dass der definitive Einstieg ins Erwerbsleben so rasch wie möglich vonstattengeht». Der Einstieg in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gelinge nicht zuletzt dank Praktika in der Regel gut, sagt Andrea Schwarzenbach, stellvertretende Ressortleiterin Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht.

Praktika seien für viele Jugendliche nach wie vor wichtig für den Einstieg ins Erwerbsleben, sagt Schwarzenbach.«Insbesondere Hochschulabsolventen mit wenig praktischer Berufserfahrung können in einem Praktikum ihre ersten Schritte im Erwerbsleben gehen und wichtige Erfahrungen sammeln.» Gleichzeitig biete ein Praktikum die Chance, sich beim Arbeitgeber für eine definitive Anstellung zu empfehlen. 

Ein Verschwinden der Praktika würden die Fachpersonen bedauern. Pascal Huber warnt vor dem Tod des Praktikums. «Denn ein Praktikum ist absolut sinnvoll, wenn es eine Win-Win-Situation ist.» Für Jakub Samochowiec bedeutet dies zum Beispiel, dass «interessantere Aufgaben als das stereotype Kaffeekochen angeboten werden müssten und auch die Vergütung angemessen sein sollte.»

veröffentlicht: 4. September 2023 07:25
aktualisiert: 4. September 2023 07:25
Quelle: Today-Zentralredaktion

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