2023 wird für die Schweizer Demokratie ein aussergewöhnliches Jahr. Neben der Wahl von National- und Ständerat im Oktober stehen in mehreren Kantonen Regierungs- und Parlamentswahlen auf dem Programm, etwa in Zürich, Genf oder Luzern. Alle Personen, die mindestens 18 Jahre alt sind und das Schweizer Bürgerrecht besitzen, können an diesen Urnengängen teilnehmen, so lautet zumindest die landläufige Meinung.
Tatsächlich sind aber rund 15'000 Schweizerinnen und Schweizer vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Dies, weil sie «wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden», wie es im Bundesgesetz über die politischen Rechte festgelegt ist.
Langer Kampf um die Mitbestimmung im Staat
Die Frage, wer in der Schweiz am politischen Prozess teilnehmen darf, ist so alt wie der Bundesstaat selbst. Bei der Gründung der modernen Schweiz wurde das Stimm- sowie das aktive und passive Wahlrecht zunächst nur einer Bevölkerungsminderheit zugestanden. Alle Frauen sowie Männer, die in ihrem Wohnsitzkanton von einer psychischen Erkrankung, strafrechtlicher Verurteilung, fruchtloser Pfändung, Konkurs, Sittenlosigkeit, Bettelei oder administrativer Versorgung betroffen waren, waren ausgeschlossen. Auch für jüdische Personen war die Ausübung der politischen Rechte erschwert.
Über die Jahrzehnte wurde der Kreis der stimm- und wahlberechtigten Personen ausgeweitet. Der grösste Schritt hierbei war die – im internationalen Vergleich späte – Einführung der Partizipationsrechte für Frauen auf Bundesebene in der Abstimmung vom 7. Februar 1971. 1991 wurde ausserdem die politische Volljährigkeit mit dem vollendeten 18. Altersjahr festgelegt.
Genf und Solothurn gehen voran
Nicht an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen können damit bis zum heutigen Tag all diejenigen Menschen in der Schweiz, die wegen einer Behinderung in ihrer Heimat unter einer zivilrechtlichen Schutzmassnahme stehen, oder anders gesagt entmündigt sind. Doch jetzt kommt in den Kantonen Bewegung in diesen Ausschluss von den politischen Rechten.
Als erster Kanton nahm Genf im November 2020 eine Verfassungsrevision mit grosser Mehrheit an, die auch Bürgerinnen und Bürgern mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen auf kommunaler und kantonaler Ebene ermöglicht. 1200 Bürgerinnen und Bürgern waren von dem Entscheid betroffen. Nun ist auch im Kanton Solothurn eine Volksinitiative zur Anpassung der gesetzlichen Vorgaben lanciert worden.
Die Gesetzesinitiative «Politische Rechte für Menschen mit geistiger Behinderung» will das kantonale Gesetz über die politischen Rechte ändern. «Stimmfähig sind Schweizerinnen und Schweizer, die das 18. Altersjahr vollendet haben», soll im Gesetz nur noch stehen. Derzeit gilt noch der Zusatz: «... und von der Stimmfähigkeit nicht ausgeschlossen sind.»
Im Initiativkomitee sind auch Personen mit einer Behinderung. Im Kanton Solothurn sind mindestens 3000 beglaubigte Unterschriften notwendig, damit eine Volksinitiative zustande kommt. Die Sammelfrist läuft bis zum 10. Juni des kommenden Jahres.
UNO-Behindertenrechtskonvention setzt Schweiz unter Druck
Die Fachorganisation Pro Infirmis unterstützt das Anliegen. Dieses sei ein wichtiger Schritt in Richtung politische Inklusion. Die UNO-Behindertenrechtskonvention garantiere Menschen mit Behinderungen die Mitsprache und Teilnahme an politischen Prozessen. Die Schweiz habe die Konvention ratifiziert. Sie sei aber in der Realität noch weit von politischen Mitsprache behinderter Menschen entfernt.
Und auf Bundesebene? Hier wurden in den vergangenen Jahren gleich zwei entsprechende Vorstösse eingereicht. SP-Ständerätin Marina Carobbio Guscetti reichte im Frühling 2021 ein Postulat ein, das vom Bundesrat Auskunft verlangt, wie Menschen mit einer geistigen Behinderung am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. Die vor wenigen Tagen in die Regierung gewählte Elisabeth Baume-Schneider lancierte zeitgleich einen ähnlichen Vorstoss. Es wird sich zeigen, ob die neue Chefin des Justizdepartements dem Prozess Schub verleihen kann.
Wie früher beim Frauenstimmrecht hinkt die Schweiz auch bei der Partizipation von Menschen unter umfassender Beistandschaft dem Ausland hinterher. In anderen europäischen Ländern wie Schweden, Frankreich, Österreich, Italien und Grossbritannien haben Menschen mit Behinderungen bereits das allgemeine Wahlrecht. Nach der Ratifikation der UNO-Konvention ist die Schweiz jetzt unter Zugzwang.
(osc/sda)