+41

«Mein Unterkörper gehört nicht zu mir»

· Online seit 05.05.2021, 13:00 Uhr
Der Körper ist gesund, aber bestimmte Körperteile werden als fremd empfunden – so fremd, dass sich Betroffene gar eine Amputation wünschen. Solche Menschen leiden unter der Körperwahrnehmungsstörung BID. Das Reportagemagazin «+41»zeigt, wie zwei Männer gelernt haben, damit umzugehen, und was die Wissenschaft dazu sagt.

Quelle: FM1Today

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«Diese Menschen haben sich dieses Problem nicht ausgesucht, sie wurden mit einem neurologischen Schaden geboren», sagt Erich Kasten, Professor für Neuropsychologie an der Medical School Hamburg, in der Sendung «+41», dem Schweizer Reportagemagazin. Kasten gehört zu den wenigen Wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum, die sich mit BID (Body Integrity Dysphoria) auseinandersetzen.

Von einer solchen Körperbildstörung betroffen ist der 51-jährige Michael. Er ist seit 28 Jahren verheiratet und sagt: «Mein Unterkörper gehört nicht zu mir.» Dieses Gefühl hatte er schon als Kind. «Zeitweise konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen», sagt er. Sein geheimer Wunsch war, Querschnitt gelähmt zu sein. Vor fünf Jahren hat er sich geoutet und sitzt nun im Rollstuhl – sehr zu seiner Zufriedenheit. Seine Beine benutzt er nicht mehr. Michael hatte Glück – sein enges Umfeld hat positiv reagiert. «Ich bin mit dem Leben und mir im Reinen.»

Beat trägt heimlich eine Beinprothese 

Anders ist es Beat nach seinem Outing ergangen. Der 45-Jährige hatte sich mit 25 Jahren geoutet. Sein rechtes Bein ist ihm gänzlich fremd. «Meine damalige Ehefrau konnte damit nicht umgehen, es hat sie geekelt und es kam zur Trennung.»

Bei der Arbeit oder in Beats weiterem Umfeld weiss niemand Bescheid über sein Geheimnis: Er trägt privat vielfach eine Beinprothese. «Wenn ich diesen Wunsch zu lange verdränge oder zur Seite schiebe, kommt er wie eine Bombe zurück. Es lähmt mich und vermindert meine Leistungsfähigkeit. Mit Beinprothese fühle ich mich einfach besser.»

Verbindung im Hirn nicht vorhanden

Bei vielen BID-Betroffenen besteht der Wunsch, sich das fremde Körperglied amputieren zu lassen. Die Wissenschaft stand lange vor einem Rätsel. Inzwischen haben sie herausgefunden, dass die Betroffenen eine neurologische Störung haben, in ihrem Hirn fehlt die Verbindung zum betroffenen Körperteil.

«Die Leute sind therapierbar, aber nicht durch Psychotherapie oder Medikamente», sagt Neuropsychologe Erich Kasten. Bei einer Studie mit zwanzig Betroffenen hat er festgestellt, dass Personen, die sich die «fremden» Gliedmassen amputieren liessen, ein durchaus zufriedenes Leben führen können. Soweit möchte Peter Brugger, Neuropsychologe und Professor für Verhaltensneurologie an der Universität Zürich, nicht gehen: «Noch weiss man zu wenig, um dies empfehlen zu können.»

Amputation in Europa nicht möglich

BID-Betroffene könnten sich zurzeit auch nicht in Europa operativ behandeln lassen, hier ist die Amputation eines gesunden Körpergliedes verboten. Doch mit einem entsprechenden Arztzeugnis ist eine Amputation in gewissen Ländern durchaus möglich.

Beat wüsste genau, wie viel ihn eine Amputation kosten würde, doch vorläufig will er dies nicht in Betracht ziehen. Ihm reicht es, regelmässig die selbst gekaufte Beinprothese anziehen zu können. «Ich wünsche mir keine Behinderung, sondern lediglich, dass der Körper so sein darf, wie er ist.»

Erster Schritt: Anerkennung der Krankheit

Ab nächstem Jahr soll BID offiziell als Krankheit anerkannt werden, wie «+41» berichtet. Dies wäre ein Meilenstein für die Betroffenen: «Solange BID keine Krankheit ist, werden die Betroffenen nicht von der Medizin ernst genommen», sagt Peter Brugger.

Mit der Anerkennung der Krankheit besteht für die Betroffenen auch die Hoffnung, dass damit auch das kaum vorhandene Verständnis in der Gesellschaft grösser wird.

veröffentlicht: 5. Mai 2021 13:00
aktualisiert: 5. Mai 2021 13:00
Quelle: FM1Today

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