Der riskante Kurs des FC St.Gallen

23.08.2017, 17:57 Uhr
· Online seit 23.08.2017, 16:23 Uhr
Im FC St.Gallen geht die Angst vor einem Eklat um, weil eine Gruppierung immer mehr Einfluss erhält. Zudem erscheint der frühere Präsident Dölf Früh weiterhin als graue Eminenz.
Sandro Zulian
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Von Peter B. Birrer, Marco Ackermann / NZZ

Als Dölf Früh in engem Kreis vor drei Jahren erstmals die Möglichkeit seines Abgangs als Präsident des FC St.Gallen thematisierte, soll er gesagt haben: «Ich will nicht so enden wie Walter Stierli.»

Als Präsident hatte sich dieser Stierli grosse Verdienste um den FC Luzern erworben, Geld aufgetrieben und um den Klub ein Netzwerk gespannt, das 2011 den neuen Stadionbau ermöglichte. In Luzern wird Stierli als «Legende» bezeichnet. Doch er verpasste den Abgang und behielt zunächst sein Aktienpaket, was er rückblickend als Fehler bezeichnet. Er übte aus dem Hintergrund Einfluss aus, nicht loslassend, manipulierend, voller Energie. Nach der Stierli-Ära hat sich der FC Luzern jahrelang in Machtkämpfen verloren.

Auch Dölf Früh gestaltete in St.Gallen ein Lebenswerk. Als der Klub 2010 im neuen Stadion wegen der Überschuldung zu kollabieren drohte, schritten Früh und ein Konsortium zur Sanierung. Früh organisierte Geld, errichtete ein Netzwerk und modellierte den FC zum ökonomischen Vorbild. Er ging rational vor und stemmte sich gegen Begleiterscheinungen im Fussballgeschäft, gegen Stimmungsmache, gegen Trainerhetze, gegen Phantastereien. Die Meriten Frühs sind hoch einzuschätzen. Er soll ab 2010 16 Millionen Franken für die Entschuldung und 24 Millionen für das immer grösser und teurer werdende Nachwuchsprojekt Future Champs Ostschweiz aufgetrieben haben. Trotzdem wundert man sich in der Ostschweiz, weshalb der FC St.Gallen nicht ein Pflänzchen ist, das neben Basel gedeiht. Wenigstens temporär.

48,5 plus 5 Prozent

Früh ist weg – und doch noch da. Als er im Mai «aus gesundheitlichen Gründen» abtrat, sagte er, seinen Besitzanteil am Klub sukzessive abgeben zu wollen. Stattdessen hat er seither zusätzliche Aktien erworben. Er soll diese sogar zum Wohl des Vereins überzahlt haben. Jetzt besitzt er 48,5 Prozent. Sein widersprüchliches Handeln löst Irritation aus und füttert jene Personen im Klub, die behaupten, dass immer noch nur einer entscheide: Dölf Früh. Daran ändert auch die Installierung von Stefan Hernandez nichts, der als neuer Präsident fünf Prozent der Anteile hält. Zusammen haben Früh und Hernandez die Mehrheit. Auch wenn diese nicht ausgenutzt werden sollte, verstärkt sie die Gerüchte, wonach Früh als graue Eminenz wirke.

Stefan Hernandez empfängt einen in einer Loge der St.Galler Arena und schlägt vor, dass die Gäste mit Blickrichtung zum Rasen an den Tisch sitzen. St.Gallen zieht nach Basel und Bern die drittgrösste Zuschauerkulisse der Liga an. Man fühlt sich anders als im fast leeren Letzigrund an GC-Spielen. Oder in Lugano. Oder in Vaduz. Oder in Lausanne. St.Gallen bietet wie Luzern eine Bühne für Profilierung. Hernandez streitet vehement ab, «der verlängerte Arm Frühs zu sein». Sonst wäre er gar nicht Präsident geworden. Er sagt: «Jeder hat seinen eigenen Stil und eigene Ideen. Entscheidend ist, dass wir als Klub und Unternehmen Erfolg haben. Dafür braucht es ein Team mit den richtigen Personen an den richtigen Stellen.» Gut möglich, dass er vor ein paar Monaten nicht wusste, in welches Nest er sich setzt.

Einige Personen im Klub behaupten, die Organisation sei seit 2015 in ein immer riskanteres Fahrwasser geraten. Damals wurde Marco Otero Ausbildungschef, worauf der übergangene Sportchef Heinz Peischl zurücktrat. Peischl-Freunde liessen verlauten, dass sich eine Gruppe um Otero und den Spielerberater Donato Blasucci ausbreite. Jetzt schreiben wir 2017, und die Entwicklung geht unvermindert weiter.

Der Trainer Giorgio Contini gehört zum Kreis, der zusammen mit Blasucci schon bei seinem früheren Arbeitgeber Vaduz «extremen Einfluss» ausgeübt habe, wie im Fürstentum zu hören ist. Zur Gruppe gehört auch der St.Galler Talentmanager Kristijan Djordjevic, der Trainerassistent Markus Hoffmann, der Konditionstrainer Harry Körner und der Goalie Daniel Lopar. Und Otero, immer wieder er. Sie kontrollieren die Kette, von der Ausbildung über Beförderungen, Transfers bis zu Aufstellungen. Dem Fussball ist nicht fremd, dass Gruppen Einfluss nehmen. Aber so?

Man hätte gerne Marco Otero zur allgemeinen Stimmungslage befragt. Doch der Klub wimmelt ab. Gegenüber dem «St.Galler Tagblatt» haben Otero und CEO Ferruccio Vanin, der nach einem schnellen und steilen Aufstieg im Klub dem Trainer, dem Sportchef und dem Ausbildungschef vorsteht, kürzlich zuvor gemachte Aussagen zurückgezogen. Otero wird in Basel und bei GC, wo er früher arbeitete, für seine fachlichen Qualitäten gerühmt. Doch beiderorts war die Trennung unumgänglich – wegen «Machtspielen» und «zu grossen Spannungen im menschlichen Bereich».

Wie gross auch immer der Einfluss der Gruppe ist: Hernandez weiss, dass die Wahl des nächsten Sportchefs unter besonderer Beobachtung steht.

Sonst «weg vom Fenster»

Vor diesem Hintergrund wurde der Sportchef Christian Stübi lästig. Zuerst beschnitt man unter der Leitung des abtretenden Dölf Früh die Kompetenzen des Peischl-Nachfolgers, indem der Trainer auf die gleiche Hierarchiestufe gestellt wurde. Im Juni trennte man sich auf Zusehen hin, kürzlich folgte die sofortige Zäsur. Dazu schweigt Stübi eisern. Doch Skeptiker erhielten Rückenwind. Ein früheres Kadermitglied des Klubs sagt: «Zu dem Thema könnte ich Bücher füllen. Die Gruppe geht immer gleich vor, ob in Vaduz, St.Gallen oder Bellinzona, mit denselben Personen, denselben Mechanismen, demselben Muster.» Wehe, wenn du dich gegen die Gruppe Otero/Blasucci stellst, zu deren Umkreis auch die Brüder Murat und Hakan Yakin sowie der Vaduz-Sportchef Bernt Haas gehören.

Ein Super-League-Trainer sagt im kleinen Kreis, dass er das Spiel mitspielen müsse, wenn er einen Job auf diesem Niveau wolle. Sonst sei er «weg vom Fenster». Das sei die Gesetzmässigkeit, man brauche ein Netzwerk. Ein bekannter früherer Super-League-Coach sagt: «Beziehungsdelikte sind ein wichtiger Faktor im Fussball. Die Frage ist immer, ob's zulasten der Qualität geht. Und ob's der Klub zulässt.»

In St.Gallen lässt es Früh zu. Mit dessen Rückzug ist ein Vakuum entstanden, das ausgenutzt werden kann. Doch Früh wähnt das Schiff auf Kurs. Andere sprechen von «unfassbaren Personalentscheiden», mit denen man sogar funktionierende Teams zerschlage. Und von einem «hochriskanten Weg», der «mit einem Knall» enden könne. Eine Stimme im Klub-Zentrum sagt: «Wenn Sie mich fragen, ob wir in zwei Jahren Meister werden, antworte ich: Ich bin eher besorgt.» Immerhin seien Kontrollmechanismen nicht ausgeschaltet, und es herrsche keine Willkür. Ein Insider ergänzt: «Entweder hat die Gruppe Erfolg. Oder es knallt. Es gibt Anzeichen für beide Richtungen.» Viele orten eine diffuse, aber dennoch klare Steuerung, weil die Gruppe im Hintergrund agiert und versucht, Medien gefügig zu machen. In St.Galler Spielerkreisen kursieren Fragen wie: «Wer hat das Sagen? In wessen Büro müssen wir jetzt?»

Das Konstrukt in St.Gallen erinnert an Luzern: Im Vordergrund fungiert ein Präsident mit beschränkter Bewegungsfreiheit, weil der Geldgeber im Hintergrund bleibt. Problematisch daran ist, dass solche Konstellationen die Phantasie anregen und Machtspiele fördern – je nach Narzissmus und Geltungsdrang. Und je nachdem, wer wie viel Geld verliert; auch darum geht es im defizitären Schweizer Fussball. Solche Abhängigkeiten können verhängnisvoll sein und sind auf fehlende Sachkompetenz und fehlende Wirtschaftlichkeit im hiesigen Klubfussball zurückzuführen. Und auf Eitelkeiten.

Dass sich Früh gefährlich und bedingungslos an Personen ketten kann, ist nicht neu. Das machte er mit dem früheren Sportchef Peischl, dessen Abgang er bis heute nicht verdaut hat. Und das tat er mit dem früheren Trainer Joe Zinnbauer, dem er so lange die Stange hielt, bis es nicht mehr ging. Früh hat einen Verwaltungsrat, der ihm weitgehend ergeben ist. Und möglich ist, dass er sich auch an Otero gebunden hat, dessen Kompetenzen weit über den Nachwuchs hinausgehen. Solche Seilschaften sind in Fussballklubs nicht selten, können diese jedoch um Jahre blockieren oder sogar zurückwerfen.

Söhne unter Beobachtung

In St.Gallen gibt's sonderbare Konstellationen. So stehen Söhne von jetzigen oder früheren Funktionsträgern oder dem Klub nahestehenden Personen im Kader der ersten Mannschaft – oder sind auf dem Sprung in dasselbe. Das ist kein Verbrechen und kann glorreich enden. Doch die Gefahr des Absturzes ist erheblich, weil sich die betreffenden Jungen gleich doppelt beweisen müssen. Man kann sich ausmalen, was geschieht, wenn der begabte Sohn eines Entscheidungsträgers in der St.Galler Arena debütiert und nicht reüssiert. Man erahnt, welche Sprüche geklopft werden. Eigentlich können Vater und Sohn nur verlieren, weil hinter jeder Beförderung Vetternwirtschaft vermutet wird.

Die Reaktion von Betroffenen ist symptomatisch: «Nicht bei uns.» Natürlich nicht in St.Gallen. Warum denn auch? Für das Nachwuchsprogramm spricht, dass zuletzt einige junge Fussballer an die erste Mannschaft herangeführt worden sind. Noch ist offen, ob dies zum Erfolg führt. Will heissen: Transfererlöse und lokale Verankerung.

Im Jahr 2000 wurde St.Gallen Meister. Es war der letzte Titel eines Aussenseiters fernab von Basel und Zürich. Der Triumph wurde nur möglich dank einzigartiger Team-Konstellation.

Dieser Artikel erschien erstmals am 23. August in der NZZ.

veröffentlicht: 23. August 2017 16:23
aktualisiert: 23. August 2017 17:57

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