Als am späten Sonntagabend im Ariake Gymnastics Centre die Würfel gefallen waren, war Giulia Steingruber bereits wieder ins olympische Dorf zurückgekehrt. Im Gegensatz zu 2012 in London, als sie auf der Tribüne miterlebt hatte, wie sie noch aus dem Feld der Olympia-Finalistinnen rutschte, verzichtete sie nun darauf, die Enttäuschung vor Ort mitzuerleben.
Noch einmal wollte Steingruber um die Medaillen kämpfen, sich im Zeichen der fünf Ringe mit den Besten der Welt messen. Auch deswegen hatte sich die St. Gallerin 2016 entschieden, ihre Karriere fortzusetzen, als sie mit den beiden EM-Titeln an der Heim-EM in Bern und dem Gewinn von Olympia-Bronze in Rio de Janeiro im Zenit ihrer Karriere stand.
Das neuerliche Erreichen eines olympischen Diploms wäre das Happy End ihres beschwerlichen Weges nach Tokio gewesen. Nach einem Kreuzbandriss 2018 hatte sie sich zurückgekämpft, auch die Verschiebung der Spiele um ein Jahr nahm sie in Kauf. Und trotz eines Muskelfaserrisses holte sie Ende April in Basel ihren vierten EM-Titel am Sprung. Der lädierte Oberschenkel störte die Vorbereitung auf Tokio allerdings empfindlich. Am Sprung und am Boden konnte Steingruber bis zuletzt nur reduziert trainieren.
Sie habe nicht ihre bislang beste Leistung gezeigt, aber ihr Bestes gegeben, kommentierte Steingruber in den sozialen Medien den Tag, der für sie nicht das erhoffte Ergebnis brachte. Unmittelbar nach ihrem Wettkampf hatte sie das Erreichen des Sprung-Finals als «Träumli» bezeichnet. Den Diminutiv hatte sie zwar nicht bewusst, aber wohl nicht ohne Grund gewählt. Steingruber spürte, dass sie ein Déjà-vu erleben könnte. Nicht nur bei ihrer Olympia-Premiere hatte sie den Einzug in den Sprung-Final knapp verpasst, auch an den Weltmeisterschaften in Stuttgart 2019 war ihr dasselbe Schicksal widerfahren.
Ein ungewöhnlicher Fehler
In der letzten Abteilung wurde schnell klar, dass Steingruber zwar bis am Wochenende in Tokio bleiben darf, dies aber nur als Ersatzturnerin. Die Koreanerin Yeo Seojeong, die Mexikanerin Alexa Morena und die Brasilianerin Rebeca Andrade sprangen besser als die 27-jährige Ostschweizerin, wodurch der Traum platzte, am Schweizer Nationalfeiertag am Sprung noch einmal antreten zu dürfen.
Bei der Beurteilung der eigenen Leistung war Steingruber hin- und hergerissen. Die Kampfrichter waren mit ihr hart ins Gericht gegangen. Vor allem am Boden und am Schwebebalken kassierte sie viele Abzüge, was auch für sie nicht ganz nachzuvollziehen war. «Aber man muss es akzeptieren und nach vorne schauen.»
Nachvollziehbar war ihre Wertung am Sprung, war ihr doch der Tschussowitina für einmal nicht ganz perfekt geglückt. «Ich hatte zu wenig Salto-Rotation, so war ich bei der Landung etwas tief», sagte sie. Für den kleinen Fehler zahlte sie einen hohen Preis. Am Schluss resultierten 14,566 Punkte - fünf Hundertstel zu wenig, um noch einmal um die Medaillen zu kämpfen.
Immerhin blieb Steingruber der Super-Gau erspart. Als Zweitletzte schaffte sie den Einzug in ihren dritten olympischen Mehrkampf-Final - ein kleines Trostpflaster. In der bereinigten Rangliste der Qualifikation - jede Nation darf nur zwei Finalistinnen stellen - belegte Steingruber den 23. Rang. «Es ist eine mega Ehre, noch einmal für die Schweiz anzutreten. Ich werden alles geben.»
Biles patzt, Niederlage für die USA
Eine Überraschung setzte es in der Teamwertung ab, in der nicht die grossen Favoritinnen aus den USA die Qualifikation auf Platz 1 beendeten. Auch Superstar Simone Biles patzte; sie übertrat nach einer Diagonalen am Boden nicht nur die Markierung, sondern landete sogar ausserhalb des Podiums. Trotzdem beendete die 24-Jährige den Mehrkampf auf Platz 1, zudem qualifizierte sie sich für alle vier Gerätefinals.