Es ist ein beunruhigendes Bild der Gesellschaft, das Jens Steiner in seinem neuen Roman «Ameisen unterm Brennglas» zeichnet. Menschen, die nach Halt suchen, die sich zwischen Terminen und Selbstoptimierung verlieren. Ein Kind, das einsam durch die Wälder streift, während seine Mutter notorisch Gutes tut. Der gelegentliche satirische Unterton sorgt nur kurz für Erheiterung: Lachen, das im Hals stecken bleibt.
Ganz anders «Lotta Barfuss und das meschuggene Haus»: Witz, Tempo, eine ideenreiche Heldin und eine bewusste sprachliche Schnoddrigkeit ist dem im Februar erschienenen Kinderbuch eigen.
Ja, der 1975 in Zürich geborene Autor Jens Steiner, dem für seinen Roman «Carambole» 2013 der Schweizer Buchpreis verliehen wurde, schreibt auch Kinderbücher. Es sind Bücher, die Kindern in eben jener widersprüchlichen Welt, die Steiner nun in «Ameisen unterm Brennglas» beschreibt, Halt geben können.
«Wunderbare Abwechslung»
Leseförderung sei ihm sehr wichtig, sagt Jens Steiner gegenüber Keystone-SDA. Ausserdem sei das Schreiben von Kinderliteratur eine wunderbare Abwechslung. «Ich bewege mich in ganz anderen Welten als mit den Erwachsenenbüchern, auch, was die Rezeption angeht.» Er habe dabei mit Menschen zu tun, die akkurat und mit grosser Ernsthaftigkeit lesen würden. «Immer wieder machen sie mich auf kleine Ungereimtheiten aufmerksam. Ob sie grundsätzlich aufmerksamer lesen als Erwachsene, weiss ich nicht. Sie sind wohl einfach weniger diplomatisch.» Er selbst sei als Kind ein unersättlicher Leser gewesen. «Ich habe jede Woche einen neuen Bücherstapel aus der Bibliothek geschleppt und mich quer durch alles gelesen.»
Der Schreibprozess sei bei einem Kinderbuch ein völlig anderer als bei einem Erwachsenenbuch, so Steiner. «Beim Kinderbuch muss ich mich immer wieder neu auf mein Zielpublikum einkalibrieren, muss mir die Lebenswelt von acht- bis zehnjährigen Kindern vor Augen führen. Ich will auf Augenhöhe mit meinen Leserinnen und Lesern sein, und das ist beim Kinderbuch sicher schwieriger.» Grundsätzlich habe Literatur immer die gleichen Funktionen: «Sie soll und darf unterhalten und sie soll ein Raum sein, der das Nachdenken und Fantasieren über unsere Geschichte und unsere Gegenwart ermöglicht.»
«Permanente Wertsteigerungsforderung»
In «Ameisen unterm Brennglas», dem neuen Werk für Erwachsene, schildert Steiner ebendiese Gegenwart, in der alle von der Suche nach einem perfekten Leben umgetrieben und durch die zunehmende Digitalisierung überreizt sind. «Wir erlauben uns kaum mehr, auf all das, was auf uns einprasselt, langsam zu reagieren», sagt Jens Steiner. «Unser Leben steht unter einer permanenten Wertsteigerungsforderung, wir vergleichen uns ständig mit anderen. Dazu kommen in den letzten Jahren die Männer, die in Menschenmengen rasten, wild um sich schossen oder Hunderte von Flugzeugpassagieren in ihren eigenen Suizid miteinbezogen. Und wie wir auf die Nachrichten davon reagieren.» All dies habe sein Gehirn zu jenem Teig vermischt, der jetzt als sein neues Buch vorliege.
In diesen «Teig» werden scheinbar zusammenhanglose Gewaltakte verübt: Ein Haus brennt, in einer Autobahnraststätte findet eine Schiesserei statt, eine Geisel wird genommen. Wie bei einem Puzzle fügen sich die einzelnen Kapitel zu einem Wimmelbild aus Menschen und Schicksalen zusammen. Wie ihre Protagonisten, kommt auch die Geschichte selbst erst etwas zäh voran, gewinnt dann aber an Tempo und Spannung.
«Ameisen unterm Brennglas» ist eher schwere Kost. Wie steht es da mit der Abwechslung, der Lust auf etwas Leichteres? «Ich habe auf vieles Lust, und das ist bei mir ein chronisches Problem», sagt Steiner. Erscheint bald ein neues Kinderbuch? «Ich habe mit einem Kinderbuch angefangen, zugleich entsteht ein weiterer Roman, dann noch ein Buch, das sich zwischen Literatur und Essayistik bewegt, und ein Band mit Erzählungen wäre auch noch in der Pipeline. Natürlich weiss ich, dass ich nicht alles gleichzeitig schreiben kann. Ich tue mich immer schwer damit, mich auf eines oder zwei Projekte zu beschränken.».*
*Dieser Text von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.