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Pascal Merciers neuer Roman: Endlosschlaufen eines Sprachsüchtigen

Literatur heute

Pascal Merciers neuer Roman: Endlosschlaufen eines Sprachsüchtigen

27.01.2020, 11:18 Uhr
· Online seit 27.01.2020, 11:05 Uhr
Wie lebt man weiter, wenn man schon mit einem Bein im Grab stand? Der Held in Pascal Merciers neuem Roman «Das Gewicht der Worte» muss das herausfinden, verliert sich dabei aber in zu vielen Wörtern
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Sie haben es nicht leicht zur Zeit, die älteren weissen Männer. Als letzte Vertreter einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung müssen sie für alles, was ihre Vorväter angerichtet haben, den Kopf hinhalten. Bestsellerautor Pascal Mercier, mit Jahrgang 1944 und Geburtsort Bern selbst ein älterer weisser Mann, nimmt sich ihrer an.

In seinem Erfolgsroman «Nachtzug nach Lissabon» (2004) schickte er einen vergeistigten Gymnasiallehrer auf den Spuren eines Dichters nach Portugal, wo er sich endlich dem Leben öffnet. Vielschichtig hat der britische Schauspieler Jeremy Irons dieses Erwachen in der Kinoverfilmung dargestellt. Nun, in einem neuen opus magnum, stellt Mercier den Lesenden einen ähnlichen Helden vor.

Simon Leyland aus London, Übersetzer literarischer Texte in Triest, Witwer einer erfolgreichen Verlegerin und Vater zweier erwachsener Kinder, kann plötzlich nicht mehr sprechen. «Das Buch handelt unter anderem von einem möglichen Sprachverlust», fasst der Autor die knapp 600 Seiten auf Anfrage zusammen. Da habe es viel nachzulesen gegeben, «auch über die neurologischen Hintergründe». So erfährt man: Es war nur eine «migraine accompagnée» - nach kurzer Zeit kann Leyland wieder normal kommunizieren. Doch die ärztliche Diagnose attestiert ihm einen Hirntumor, der bald zum Tod führen werde.

Codewörter zur Sterbehilfe

Das erste Drittel des Romans nimmt beim Lesen ganz für den Helden ein. Wie tiefgründig dieser Mann denkt, wie gewissenhaft er beim Übersetzen die Wörter gegeneinander abwägt, wie respektvoll er die Überlegenheit seiner Frau anerkannt und wie zärtlich er sie geliebt hat. Nach ihrem Tod schreibt er ihr wortreiche Briefe, erzählt, was geschehen ist, und gewinnt dabei Klarheit für sich selbst. Damit wiederholt er, was bereits vorher auf der Ebene des Plots geschildert wurde.

Diese häufigen Wiederholungen werden im Verlauf des Romans bemühend - man beginnt die Briefe zu überspringen. Auch sonst scheint sich der Held im zweiten Drittel zunehmend in einer Endlosschlaufe zu verlieren. Immer wieder erzählt er von seinem Jugendtraum, alle Sprachen zu lernen, die rund ums Mittelmeer gesprochen werden. Inzwischen kann er gar Maltesisch. Und all seine Beziehungen gründen auf der geteilten Freude an den Sprachen.

So lernt Leyland im Gefängnis, wo er für einen albanischen Häftling dolmetscht, Andrej kennen, der den Liebhaber seiner Freundin totgeschlagen hat und in seiner dunklen Zelle nur überlebt, indem er einen baskischen Roman ins Russische überträgt.

Auch Pat, der irische Kellner in Leylands Lieblingstrattoria, entpuppt sich als Poet; er zitiert beim Abräumen Dante. «Black month», raunen die beiden Männer sich im November zu; «greying days», wenn es ihnen nicht gut geht. Und es braucht nicht viele Worte, bis Pat versteht: Sein Freund will nicht warten, bis der Tumor ihn besiegt, sondern dem Leben selbst ein Ende setzen. Im nahen Ljubliana besorgt er Leyland das nötige Gift. Dergestalt sind die Männerfreundschaften, die Seite um Seite märchenhafter wirken.

Schreiben als Therapie

Wie sein Held einst aus dem College in Oxford, ist Pascal Mercier aus dem Gymnasium in Bern nach London geflohen: «Victoria Station: Das war der Eintritt in die Welt», erinnert sich der Autor. Nach seinen Recherchen zu Triest befragt, erklärt er: «Ich habe dort einen Tag im Gefängnis verbracht, um eine meiner Figuren möglichst echt darstellen zu können» - eben Andrej.

Schade, hat der Autor die Erkenntnis, dass Recherchen vor Ort für die Glaubwürdigkeit des Textes unumgänglich sind, seinem Helden nicht weitergegeben. Simon Leyland, zeitlebens Übersetzer fremder Geschichten, versucht sich nämlich selbst als Literat.

Nachdem Leyland aufgrund der Diagnose mit seinem Leben schon fast abgeschlossen hat, erfährt er, dass sie falsch war und reist nach London (wo er praktischerweise gerade ein Haus geerbt hat), um einen Weg zurück ins Leben zu finden. Schreiben, die eigene Stimme finden. Endlich wagt er es.

Doch statt Visionen und Fiktionen zu entwickeln, gelingt ihm bloss eine therapeutische Nabelschau. Er erfindet einen älteren weissen Mann, wie sich selbst und lässt ihn in ein Haus in Südfrankreich ziehen, um herauszufinden, was er vom Leben noch will. Damit zieht Leyland eine weitere Ebene in Merciers Roman ein. Um das Haus in Südfrankreich bläst der Mistral. Und statt selber hinzufahren und sich so richtig durchpusten zu lassen, gräbt Leyland in seinem migränegeplagten Kopf nur weiter nach Wörten, Wörtern, Wörtern.*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

veröffentlicht: 27. Januar 2020 11:05
aktualisiert: 27. Januar 2020 11:18
Quelle: sda

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