Hungrig aufs Leben

Magersucht – auch ein Männerthema

10.10.2020, 08:40 Uhr
· Online seit 10.10.2020, 08:39 Uhr
An Magersucht erkranken mehrheitlich Frauen – aber nicht nur. Auch Aron Boks, Moderator, Autor und Slam Poet aus Berlin, verfiel der Sucht nach «Perfektion». In seinem Buch «Luft nach unten» bietet er einen Einblick in seine damaligen essgestörten Gedanken.
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Die Magersucht unter Kontrolle zu haben, sei wie Unkraut jäten, findet Aron Boks: «Die Keime der Essstörung sind in mir drin, die krieg‘ ich nicht weg. Ich muss gut aufpassen, dass sie nicht wieder ausbricht.» Mit dieser Denkweise gelingt es ihm heute, gelassen mit dem Thema Essen umzugehen. Das war nicht immer möglich. Essen war der Feind, der Verzicht darauf eine Droge.

Der 23-jährige Aron Boks war bis vor einem Jahr magersüchtig. Er war süchtig nach dem Schritt auf die Waage, nach dem Blick in den Spiegel und nach Kontrolle. Seine rundlichen Wangen sah er als «eklige, speichelgefüllte Hautlappen in einem aufgedunsenen Gesicht». Der Verzicht auf Nahrung, die kleinste verfügbare Kleidergrösse in der Männerabteilung von Zara und ein BMI von 17 – klassische Symptome für eine Anorexia nervosa, umgangssprachlich Magersucht genannt.

Unter 18.5

Untergewicht

18.5 bis 24.9

Normalgewicht

18.5 bis 24.9

Leichtes bis mittleres Übergewicht

25.0 bis 29.9

Adipositas (Fettsucht)

Auch Männer gefährdet

Magersucht gilt als Frauenkrankheit. Bettina Isenschmid, Ernährungsmedizinerin im Spital Zofingen, bestätigt das: «Von zehn Betroffenen sind neun weiblich, da der Druck, einen schlanken Körper zu haben, auch heute noch Mädchen und Frauen stärker betrifft.» Mit dem Wandel der Gesellschaft seien aber auch immer mehr Knaben und Männer, wie Aron Boks, betroffen. Ein weiteres typisches Merkmal von Magersüchtigen ist die Disziplin. Auch das trifft auf Aron zu. Selbst Schokolade und Pizza konnten ihn nicht von seinem Ziel, das keine Grenze zu haben schien, abbringen:

Dass er ein Problem hat, realisierte Aron, als der Hunger ihm den Schlaf raubte. Ätzend war das, klar, aber noch lange nicht ausreichend, um ihn zum Umdenken zu bewegen. Nach monatelangem Kämpfen und zahlreichen Kreislaufzusammenbrüchen meldete er sich schliesslich für einen stationären Klinikaufenthalt an. Dies war eine Entscheidung, die er danach noch oft hinterfragt hat, ohne zu wissen, dass es der erste Schritt in die richtige Richtung war.

Gefahr für den ganzen Körper

In der Klinik fühlte sich Aron zunächst unwohl. «Ich dachte immer, dass die anderen ein viel grösseres Problem haben und dass ich denjenigen den Platz wegnehme, die ihn dringender brauchen», sagt er. Obwohl sich durch die Mangelernährung bereits Schäden an seinem Körper abzeichneten, begriff er den Ernst der Lage lange Zeit nicht. Beim Röntgen hat man herausgefunden, dass sich seine graue Gehirnmasse zurückgebildet hatte. Eine Mangelernährung wirkt sich mit der Zeit auf den gesamten Körper aus. «Primär versucht der Körper, Energie zu sparen, indem er die Körpertemperatur und den Blutdruck senkt, den Puls verlangsamt, die Blutzirkulation einschränkt, Fett und Muskulatur abbaut. Ausserdem werden Leber und Niere geschädigt und schliesslich auch das Gehirn», sagt Bettina Isenschmid. Dazu komme es bei Betroffenen oft zu Unfruchtbarkeit oder zur Schädigung des Skeletts.

Während seines Klinikaufenthaltes lernte Aron Boks, seine Krankheit zu verstehen. Gemeinsam mit anderen Patienten kochte und ass er. Ausserdem wurde geredet – nicht nur übers Essen, sondern auch über Emotionen. «Ich habe mich dort geschämt, aber irgendwie auch gut aufgehoben gefühlt», gibt der Wahl-Berliner zu. Auch Freunde und Familienmitglieder unterstützten Aron auf dem Weg in ein gesundes Leben. Nicht lange nach der Heilung hat er diesen Weg in seinem Buch «Luft nach unten» verschriftlicht und der Aussenwelt zugänglich gemacht. Seine Magersucht ist besiegt – vorerst. Nach wie vor muss er aufpassen, dass er nicht in alte Denkmuster zurückfällt. Nur weil die Essstörungsstimme momentan schweigt, heisst es nicht, dass sie für immer verstummt ist. Doch Aron Boks ist optimistisch, dass er es schafft, denn er ist hungrig, hungrig aufs Leben.

veröffentlicht: 10. Oktober 2020 08:39
aktualisiert: 10. Oktober 2020 08:40
Quelle: Svenja Rimle

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