Katastrophe

20'000 Tote in Libyen befürchtet: So ist die Lage nach dem Unwetter

· Online seit 14.09.2023, 16:00 Uhr
Bei heftigen Unwettern sind in Libyen wohl 20’000 Menschen ums Leben gekommen. Der Sturm «Daniel» hatte das Land am Sonntag erfasst. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Lage im nordafrikanischen Land.
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Was ist in Libyen passiert?

Am Sonntag erfasste der Sturm «Daniel» Libyen. Der Sturm hatte zuvor auch in Griechenland gewütet. Die Regierung in der Hauptstadt Tripolis unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba sprach von den schwersten Regenfällen seit mehr als 40 Jahren. 

Welche Ortschaften sind betroffen?

Prekär ist die Lage in der Hafenstadt Darna. Hier brachen zwei Dämme wegen der Wassermassen. Ganze Quartiere, Sehenswürdigkeiten, Häuser und Menschen der 100’000 Einwohner zählenden Stadt wurden ins Meer gespült. Strassenzüge sind in meterhohem Schlamm versunken und die starken Winde liessen Strommasten umstürzen. 

Die Hilfsorganisation Care Libyen teilte mit, bei einem Wasserstand von bis zu zehn Metern sei das Gebiet um Darna völlig zerstört sowie die Kommunikations- und Stromnetze lahmgelegt worden. 

Neben Darna sind Städte wie Al-Baida, Al-Mardsch, Susa und Schahat betroffen. Der Bürgermeister in Schahat sprach von rund 20'000 Quadratkilometern überfluteter Gebiete – eine Fläche etwa so gross wie das deutsche Bundesland Sachsen-Anhalt. Die betroffenen Regionen wurden zu Katastrophengebieten erklärt.

So heftig wütete der Sturm «Daniel» in Darna:

Wie dramatisch ist die Situation in Libyen?

«Wir erwarten eine sehr hohe Zahl von Opfern. Ausgehend von den zerstörten Bezirken in der Stadt Darna können es 18'000 bis 20'000 Tote sein», sagte Bürgermeister Abdel-Moneim al-Gheithy dem arabischen Fernsehsender Al-Arabija. Die genaue Zahl ist nur schwer unabhängig zu beziffern. 

Rettungsteams suchen in den Trümmern von Darna weiter nach Überlebenden. 10'000 Menschen gelten in dem Land mit knapp sieben Millionen Einwohnern seit Montag noch als vermisst. Wie viele davon seither tot oder lebend gefunden wurden, ist unklar.

Augenzeugen vor Ort berichteten der Deutschen Presse-Agentur, Darna sei noch immer «voller Leichen». Hilfe werde dringend benötigt. Insbesondere der Osten der Stadt sei weiter vom Rest abgeschnitten. Kommunikationsverbindungen seien teilweise komplett abgerissen.

Während die Rettungskräfte weitersuchen, müssen in Leichensäcke gehüllte Opfer in Massengräbern verscharrt werden. Videos in sozialen Medien zeigten Fahrzeugkolonnen, die Tote abtransportierten, auf anderen Aufnahmen trieben Leichen im Meer. 

Allein in Darna sind mehr als 30'000 Menschen obdachlos geworden, wie die Internationalen Organisation für Migration (IOM) auf X (vormals Twitter) mitteilte. 

In Libyen leben auch viele geflüchtete Menschen – was ist mit ihnen?

Die Sorge gelte auch den Hunderttausenden von Flüchtlingen und anderen Migranten aus mehr als 40 Ländern, für die Libyen das Sprungbrett nach Europa sei, berichtete die Zeitung «Arab News» mit Sitz in Saudi-Arabien. Auch unter diesen Menschen dürfte es Opfer geben, die von den Überschwemmungen mitgerissen wurden, hiess es.

Wie gestaltet sich die Hilfe vor Ort?

Osama Ali, ein Sprecher der örtlichen Notdienste, berichtete am Dienstag von den schwierigen Bemühungen der Retter in Darna. «Es gibt noch eine Strasse, die in die Stadt führt, aber die Durchfahrt ist schwierig und gefährlich, da ein Teil der Strasse zerstört ist und ein weiterer Einsturz aufgrund der riesigen Wassermengen erwartet wird.»

Zwei Milliarden libysche Dinar (rund 384 Millionen Euro) Unterstützung stelle die Regierung in Tripolis unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba am Dienstag bereit, meldete die libysche Nachrichtenagentur Lana. Damit sollten Wiederaufbaumassnahmen in betroffenen Gebieten finanziert werden.

Was unternimmt die internationale Gemeinschaft?

Die Vereinten Nationen haben für Massnahmen nach den verheerenden Überschwemmungen in Libyen Soforthilfe im Umfang von zehn Millionen Dollar freigegeben. Ein Spendenaufruf folge in Kürze, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Donnerstag in Genf. Es gehe nun darum, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern.

«Das Ausmass dieser Überschwemmungskatastrophe ist schockierend und herzzerreissend», sagte Griffiths. «Ganze Wohnviertel sind von der Karte verschwunden.» Helfer der Vereinten Nationen seien im Land, um zusammen mit den Behörden und Ersthelfern Hilfe zu organisieren.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kündigte für Donnerstag die Ankunft eines Notfallteams in der schwer betroffenen Stadt Darna an. Es bestehe aus Logistikern und medizinischem Personal, gab die Organisation auf der Plattform X bekannt. Man bringe zudem Notfallausrüstung mit zur Behandlung von Verletzten und Leichensäcke für Libyens Wohlfahrtsorganisation Roter Halbmond.

Das deutsche Technische Hilfswerk (THW) brachte 100 Zelte mit Beleuchtung, 1000 Feldbetten, 1000 Decken, 1000 Isomatten und 80 Stromgeneratoren nach Libyen. 

Weitere Hilfe kommt unter anderem aus den Nachbarländern Ägypten, Tunesien und Algerien sowie der Türkei. Auch Frankreich, Niederlande und Italien boten Unterstützung an. Die Vereinten Nationen kündigten Soforthilfe im Umfang von zehn Millionen Dollar an. Auch die Golfstaaten Katar und Kuwait haben Hilfsgüter entsendet. 

Wie hilft die Schweiz Libyen?

Die Humanitäre Hilfe des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) verfolgt die Situation im Zusammenhang mit den Überschwemmungen in Libyen, hiess es am Dienstag. Sie prüft finanzielle Unterstützung für lokale oder multilaterale Partner.

Es gehe darum, die dringenden Bedürfnisse der von den Überschwemmungen betroffenen Menschen zu decken, teilte das EDA am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mit.

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) sei in Libyen nicht präsent. Sie koordiniere ihr humanitäres Engagement aber vom benachbarten Tunesien aus. Mögliche Anpassungen laufender Aktivitäten, um neuen Bedürfnissen gerecht zu werden, würden derzeit geprüft.

Welchen Einfluss hat der Bürgerkrieg in Libyen?

Beobachter geben den Behörden Mitschuld am Ausmass der Katastrophe in dem Bürgerkriegsland. Dies zeige auch die Tatsache, wie schwierig sich die Lage für Rettungsteams und Journalisten vor Ort gestalte, schreibt Libyen-Experte Wolfram Lacher auf der Plattform X.

Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 ringen zahlreiche Konfliktparteien um Einfluss. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen – eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen – um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bislang. Infrastrukturmassnahmen wurden jahrzehntelang verschleppt.

Wie geht es in Libyen nun weiter?

Unterdessen gibt es verzweifelte Rufe nach mehr humanitärer Hilfe für die Überlebenden. «Wir brauchen einfach Leute, die die Situation verstehen – logistische Hilfe, Hunde, die Menschen riechen können und sie aus dem Boden holen. Wir brauchen einfach humanitäre Hilfe, Leute, die wirklich wissen, was sie tun», sagte ein libyscher Arzt, der in einer Klinik nahe Darnas arbeitet, dem britischen Sender BBC.

Beobachter befürchten auch, dass sich die Wut über die Katastrophe auf den Strassen entladen könnte. «Der Schock, der in den kommenden Wochen in offene Wut umschlagen könnte, ähnelt dem, was die Aufstände Anfang 2011 auslöste», schreibt der Experte Jalel Harchaoui auf X.

Der Generalsekretär der Weltwetterorganisation, Petteri Taalas, sieht die Opferzahlen auch im Fehlen eines funktionierenden Frühwarnsystems begründet. Wenn ein Wetterdienst vor dem herannahenden Unwetter gewarnt hätte, hätten Rettungsdienste Evakuierungen vornehmen können, sagte Taalas. «Wir hätten die meisten der Opfer vermeiden können.»

(sda/gin)

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veröffentlicht: 14. September 2023 16:00
aktualisiert: 14. September 2023 16:00
Quelle: Today-Zentralredaktion

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