Der alte Mann im roten Sexladen

21.12.2018, 12:37 Uhr
· Online seit 18.12.2018, 05:55 Uhr
Gino Iller aus St.Gallen ist einer der Letzten seiner Art. Trotz grosser Konkurrenz aus dem Internet betreibt er mitten in St.Gallen einen Sexshop. Die Kundschaft geht ihm nicht aus und trotz seines Alters macht er weiter.
Sandro Zulian
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«Verzeihen Sie die Unordnung», sagt der 73-jährige Gino Iller in seinem Laden. «Ich habe momentan eine anstrengende Domina, die teils mehrere Dutzend Kleider gleichzeitig anprobieren will. Die muss ich dann immer selber wieder verpacken.» Iller lacht, man merkt, dass er es nicht ernst meint. Seit 1995 betreibt er an der St.Galler Bahnhofstrasse den Laden «Erotic & Fashion». Fast jede Person, die aus St.Gallen kommt, kennt die rote Fensterfront. «Ich habe Kunden, die sagen, sie seien bereits als Babys im Kinderwagen an meinem Laden vorbeigeschoben worden.» Mittlerweile ist Gino Iller einer der letzten privaten Sexladen-Besitzer in der Region.

Persönliche Beratung

Bei Gino Iller im Laden geniesst man eine fast exklusive Aufmerksamkeit. Das kann ein wenig peinlich sein, wenn man alleine im Laden steht, doch Iller beruhigt: «Ich lasse die Leute, speziell wenn sie sich genieren, einfach ein bisschen schauen.» Wenn jemand eine Frage hat, kann er oder sie auf den hageren Mann hinter der Theke zugehen. Wenn man sich einmal auf ein Gespräch mit dem sympathischen Mann eingelassen hat, ist er kaum zu bremsen. Er erzählt über seine Erfahrungen mit Kunden, über Gott und die Welt, Journalismus, Politik.

Sexladen oder Konkurrenz

Eine Geschichte bleibt ihm in guter Erinnerung. Kurz bevor er 1995 hier eingezogen war, wurde das Nachbarlokal, ein Laden für Nähmaschinen, vom Vermieter vor die Wahl gestellt, sagt Iller: «Entweder, es zieht hier ein Sexladen ein oder der neue Nachbar ist ein konkurrierender Nähmaschinen-Laden. Jetzt bin ich seit über 20 Jahren hier», prustet Iller und lacht ein hohes Lachen, von dem er sich kaum mehr erholt. Solche Geschichten hat der Mann zuhauf auf Lager. Alle zu rezitieren, würde den Rahmen sprengen.

Bei Gino Iller im Laden (Achtung, Teile des Videos sind nicht für Kinderaugen oder sensible Menschen geeignet):

Über 400 Dildos

Iller verkauft hier alles, was die Lenden erfreut. Über 400 verschiedene Dildos findet man im Laden des 73-jährigen Ex-Buchhalters. Einer der grössten misst stolze 12 Zoll, das sind über 30 Zentimeter. «Die Anzahl der Dessous und Reizwäsche ist gar nicht bezifferbar», sagt er. Hinzu kommen viele Masturbationshilfen für ihn, sowie für sie, Penispumpen, Reitgerten, Penisringe und sogar medizinische Instrumente, die die Durchblutung des Penis fördern. «Das brauchen vor allem ältere Männer, die nicht mehr so standhaft sind.» Ferner wartet Iller mit einer riesigen Auswahl an Kondomen auf. Zu seinen besten Kunden gehört ein Bordell, das nur einige Meter entfernt auf der anderen Seite der Geleise liegt. Ausserdem verkauft er Bücher zu BDSM-Praktiken, Sex-Scherzartikel, aber auch härtere Hilfsmittel wie beispielsweise ein Harnröhren-Masturbator oder Elektroschock-Stimulationsgeräte. «Das ist wirklich nicht für jedermann», warnt Iller.

Liebesschaukeln und DVDs

Im ersten Stock befindet sich eine grosse Auswahl an Schuhen aus Lack und Leder, sagt Iller: «Diese Stöckelschuhe sind auch bei Männern beliebt.» Bis zur Grösse 46 findet man Schuhe im «Erotic & Fashion». Ausserdem gibt es in der oberen Verkaufsfläche Liebesschaukeln und eine riesige DVD-Auswahl. Ohne Umschweife gibt Iller zu, dass das DVD-Geschäft seit der Einführung des Internets gelitten hat. «Doch vor allem ältere Männer schätzen die Filmchen auf gebrannten Scheiben nach wie vor.» Zu den eher speziellen Angeboten im ersten Stock gehören auch Sexmaschinen und Gasmasken. Iller: «Davon habe ich erst letzte Woche zwei verkauft.»

«Musste die Hintertüre öffnen»

An Illers Ladentüre klebt ein Zettel: «Eingang auch über hintere Bahnhofstrasse 13. Klingeln bei Erotic & Fashion». Diesen Zettel habe er letztes Jahr anbringen müssen. «Damals befand sich die provisorische Haltestelle der Appenzeller Bahn vor meinem Laden. Da gab es manche Menschen vom Land, die ab und zu böse Blicke auf den Laden und auf potenzielle Kunden geworfen haben.» Den Kunden sei es immer unangenehmer geworden, Iller einen Besuch abzustatten. «Da musste ich die Hintertüre öffnen.»

Bunt gemischte Kundschaft

Zu seinen Kunden zählt Iller alle. Wortwörtlich: «Frauen, Männer, Dicke, Dünne, Alte, Junge, Grosse, Kleine. Junge Frauen kommen mit ihren Müttern in den Laden und wählen für Mama einen passenden Vibrator aus, Mütter kommen mit ihren Töchtern in den Laden und wählen einen Dildo für die Tochter aus. Männer kaufen sich Masturbationshilfen, Pärchen betreten den Laden zuweilen sogar mit dem Kinderwagen. «Wenn die Kinder noch so klein sind, sehe ich kein Problem», sagt Iller. Sobald sie aber älter werden, müssen sie draussen bleiben. Hier sähen sie teils Sachen, die nicht für ihre Augen bestimmt seien.

Sein Klientel gibt sich scheu, aber nicht unfreundlich. Beim Besuch von FM1Today hat Iller etwa fünf Kunden, die knapp grüssen, ihren Einkauf machen, «Tschau Gino» sagen, lächeln und wieder gehen.

Sex auch ohne Peitschenhiebe

Iller kann nicht alle Neigungen seiner Kunden nachvollziehen. «S&M, Bondage und all die Dominanzpraktiken sind nicht so mein Ding.» Der 73-Jährige ist auch kein Freund der sexuellen Entwicklung in den letzten Jahren: «Viele junge Frauen haben meiner Meinung nach seit ‹Fifty Shades of Grey› das Gefühl, ohne vorgängige 50 Peitschenhiebe auf den Hintern keinen guten Sex mehr haben zu können. Das stimmt einfach nicht.»

«Kunden nerven noch nicht»

Von seiner speziellen Arbeit könne er noch leben. «Ich kann meine Rechnungen bezahlen und die Kunden nerven mich noch nicht.» Solange das so ist, denkt er nicht ans Aufhören. Ältere Menschen wüssten heutzutage meist eh nicht mehr, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen: «Für viele ältere Männer ist das höchste der Gefühle, wenn sie am Samstagmorgen Bürli und Milch holen müssen, weil die Frau es ihnen aufgetragen hat», sagt Iller und zwinkert verschmitzt.

Ein ganz normaler Mensch

Wenn Iller den Laden verlässt oder vor der Arbeit noch einen Kaffee trinkt, merkt niemand, wo er arbeitet. Teile seiner Kundschaft sähen ihn zwar auf der Strasse, ein Grossteil grüsse ihn allerdings in der Öffentlichkeit nicht. «Das verstehe ich sogar ein bisschen. Wenn mir ein Kunde allerdings in der Stadt zuwinkt, grüsse ich freundlich zurück und unterhalte mich auch gerne ein wenig mit ihm oder ihr.» Auf seinem Weg nach Hause hat Iller im Stadtpark Freundschaft mit zwei Krähen geschlossen. Jeden Tag nimmt er ein paar Guetzli aus seinem Stamm-Café, der News-Bar, mit und füttert die beiden Vögel, denen er bereits Namen gegeben hat.

Man kann von Sexläden halten, was man will. Im Falle des 73-jährigen Gino Iller hält ihn der Laden aber vor allem eines: sehr jung.

FM1Today hat Gino Iller im Rahmen der Serie «Die Letzten ihrer Art» besucht. Während des Dezembers werden Persönlichkeiten, welche die letzten in ihrem Handwerk sind oder einen speziellen Beruf ausüben, vorgestellt. Alle Porträts im Überblick gibt es hier.
veröffentlicht: 18. Dezember 2018 05:55
aktualisiert: 21. Dezember 2018 12:37

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