182 Tage Lebenskampf

Nach sechs Monaten kämpfen: Besiegt Marco den Krebs?

16.02.2022, 08:05 Uhr
· Online seit 16.02.2022, 08:00 Uhr
Der St.Galler Marco Schwinger ist bald 100 Tage zu Hause und wartet auf Besserung. Verschwindet der Krebs ganz? Wird er kleiner? Oder hat alles nichts genützt? Das Ergebnis der Stammzellentransplantation steht noch in den Sternen. Teil 3 von 3.
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Ja sagen. Genau das tut Marco. Es ist September, bald hat er Tag 100 geschafft. Es geht aufwärts. Es geht ihm immer besser. Marco hat schon mehr als nur einmal gegen den Lymphdrüsenkrebs gekämpft. Er hat zweimal gewonnen, doch der Krebs fand seinen Weg zurück. Seit der ersten Diagnose am 19. Mai 2017 bis jetzt hat der 42-Jährige über 40 Chemotherapien über sich ergehen lassen. Eine Chemotherapie kann mehrere Tage dauern. Der erste Rückfall war im Jahr 2018, der zweite im Jahr 2020. Marco hat die aggressive und schnellwachsende Variante des Lymphdrüsenkrebs – ein Hodgkin-Lymphom.

«Als Krebspatient vergisst du den Moment der ersten Diagnose nie.» Die ersten Symptome hatte er im Herbst 2016. Kurz davor konnte er nicht mehr schlafen, sein Ruhepuls war auf 100. «Ich ging zur Ärztin, die schickte mich sofort in den Notfall. Dort haben die Mediziner festgestellt, dass ich Wasser um das Herz habe.» Auf dem Ultraschallbild hätten die Ärzte nur gesehen, dass etwas im Weg ist. Mit dem Röntgenbild kam dann die brutale Gewissheit. Ein Tumor, 18 Zentimeter gross, in der Brust lokalisiert und das Herz verdrängend. «Das war an einem Freitagabend. Am Montag darauf bin ich in die Onkologie eingerückt. Am Donnerstag bekamen wir die volle Diagnose und gleich die erste Chemotherapie.» Geweint hätten sie nicht, er und Gaby.

Quelle: Krisztina Scherrer/FM1Today

Es ist der 21. September 2021. Mittlerweile hat Marco Tag 100 hinter sich gebracht. Sandimmun, Augmentin, Bactrim forte, Betnesol: Marco nimmt seine Medikamente ein, fährt zweimal die Woche nach Zürich, hat gute und schlechte Tage. Er weiss noch nicht, ob sich die Strapazen der Stammzellentransplantation gelohnt haben. «Ich habe vermutet, dass es länger dauert. Mit so vielen Nebenwirkungen.» Marco sitzt schon seit drei Monaten zu Hause. Wartet. Auf Besserung. Aber wann kommt die?

Er lenkt sich ab, macht Krafttraining, geht Joggen und Velofahren. «Wenn ich das nicht tun kann, nervt es und macht mich hässig, weil ich dann keine Ablenkung habe.» Sport ist sein Ventil. «Für mich ist Sport sehr wichtig, und ich glaube, das hat mir in den letzten Jahren geholfen.» Bis vor fünf Jahren war Marco Spitzensportler, hat Badminton gespielt. Er war Schweizer Meister in seiner Juniorenzeit und hat auch mit seiner Mannschaft diverse Titel geholt. Den Schläger an den Nagel gehängt hat er nicht wegen seiner Krankheit. Als ihn seine Ex-Freundin nach 19 Jahren Beziehung kurz vor der Hochzeit verliess, ging er auf Reisen und ersetzte das Badmintonspiel durch Joggen und Velofahren. Ein Ex-Profisportler, der sich wegen seiner Krankheit nicht mehr sportlich betätigen kann, wie schlimm muss das für ihn sein?

Tag 123. Im Oktober geht es Marco richtig gut. Er reist mit seiner Familie ins Engadin nach Tarasp. Sie verbringen dort ein paar Tage im Ferienhaus eines Freundes. Zehn Tage ohne Arzttermin: Den Schellenursli-Weg wandern, Spiele spielen, auf dem «Bänkli» vor dem Ferienhaus entspannen, statt Isolation im eigenen Daheim. Ende Oktober die gute Nachricht: «Der Wechsel hat definitiv stattgefunden», sagt Marco. Er hat jetzt eine neue Blutgruppe und ein neues Immunsystem. Jene seiner Cousine.

Tag 157, es ist Mitte November, dann der Schock: Erbrechen und Durchfall – Marco muss ins Spital, seine Nierenwerte sind schlecht. Das Kortison, das er einnehmen musste und schon beinahe komplett absetzen konnte, wird wieder auf die volle Ladung von 60 Milligramm erhöht. «Das ist frustrierend.» Immerhin, Marco kann das Spital nach wenigen Tagen wieder verlassen. Und erneut heisst es: Abwarten. Ich frage mich: Wann hat diese Berg- und Talfahrt endlich ein Ende?

«Wie geht es mir wohl? Beschissen.»

Immer wieder überlege ich mir in diesen Monaten: Wie ist es möglich, mit dieser Krankheitsgeschichte so positiv zu bleiben? Gibt es nicht Momente, in denen man aufgeben will? Muss man sich nicht schon viel zu früh mit dem Thema «Tod» auseinandersetzen? Und, wird Marco nur noch der sein, der Krebs hat? Sein Optimismus schüchtert mich ein.

Wieso hat Marco kein Problem damit, mich – eine Fremde – so nahe an sich und seine Familie heranzulassen? «Es gibt zwei Typen von Krebspatienten, jene, die sich verschliessen und nichts erzählen – ihre Krankheit für sich behalten und sich fast schon dafür schämen», sagt Marco. Dann gebe es noch jene, wie ihn: «Ich gehe offen damit um und erzähle alles. Ich habe noch nie eine Frage nicht beantwortet.»

«Du hast gesagt, es wird einen Grund geben, weshalb du Krebs hast. Ist Spiritualität ein Thema für dich?», will ich wissen. Er antwortet: «Wenn du mich vor fünf Jahren gefragt hättest, ob ich mit ins Yoga komme, hätte ich dich gefragt, ob du einen ‹Flick› ab hast. Aber jetzt ist Spiritualität ein Thema. Ich habe meditiert, gehe mit Gaby in einen Achtsamkeitskurs, und auch mein Chiropraktiker hat sehr geholfen. Er legt bei mir Hände auf und spürt die Energiebahnen.» Nach den Sitzungen beim Chiropraktiker gehe es ihm immer gut. «Auch wenn ich dieses Phänomen nicht erklären kann.»

«Wie gehe ich mit jemandem um, der Krebs hat?», frage ich ihn. «Es gibt viele, die Angst haben, das anzusprechen. Dann kommt die Frage: Wie geht es dir? – Ja, wie geht es mir wohl: Beschissen.» Haben wir Angst, dass uns das Leid eines anderen zu fest berührt? «Ich glaube, es ist eher Mitleid. Manchmal schauen mich die Leute an und denken sich wahrscheinlich: Der Arme. Was hat er? Überlebt er?»

Ich stelle Marco zum Schluss noch zwei weitere Fragen. Zuerst will ich wissen, ob er sich nie gefragt hat, wieso ausgerechnet er an Krebs erkrankt ist. «Zu 99 Prozent kann ich nach vorne schauen und denke: Es wird schon einen Grund geben», sagt Marco. Er glaube daran, dass alles gut kommt. «Aber da ist dieses eine Prozent, da habe ich eher schlechte Laune.» Er nennt ein Beispiel: «Ich komme aus dem Spital, hatte gerade eine Chemo und trage einen Sack voll mit Medikamenten. An der Bushaltestelle steht jemand mit einer Bierflasche und raucht. Da denke ich mir schon ‹heiliger Bimbam›. Ich habe nie geraucht, wenig Alkohol getrunken und achtete auf meine Ernährung: Was habe ich falsch gemacht?»

«Ich hatte Angst vor dem Tod: Mittlerweile nicht mehr»

«Hast du Angst vor dem Tod?», am Schluss stelle ich ihm Fragen zum Thema «Tod». «Die ersten drei Jahre nach der ersten Diagnose war der Tod kein Thema. Erst als ich vergangenen Herbst wieder einen Rückfall hatte, bekam ich Angst. Wir wussten langsam nicht mehr, was tun.» Das sei ein Vorteil an der Krankheit: Man habe Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Beim letzten Rückfall haben Gaby und Marco die Kinder für zwei, drei Stunden weggegeben. «Wir gingen spazieren und haben über alles geredet. Ich wollte Gaby die Last nehmen, und wir haben darüber gesprochen, wie ich mir meine Beerdigung vorstelle.» Niemand soll weinen und deprimiert sein. «Alle sollen die Beerdigung fröhlich verlassen.»

«Wie willst du am liebsten Sterben?» Marco sagt: «Ich will keine Schmerzen haben. Am liebsten möchte ich mit 98 Jahren friedlich einschlafen. Als der Rückfall diagnostiziert wurde, hatte ich Angst und habe gesagt, dass ich noch nicht bereit bin, zu gehen. Mittlerweile wäre ich bereiter als auch schon.»

«Wieso wir überhaupt Angst haben vor dem Tod?», frage ich ihn. «In unserem Alter ist das noch zu weit weg.» Er habe sich bisher noch nicht zu intensiv mit dem Gedanken an den Tod auseinandergesetzt: «Es hiess noch nie: Wir haben jetzt keine Chance mehr. Deshalb setze ich mir Ziele wie: Nächstes Jahr arbeite ich wieder 100 Prozent, und in fünf Jahren gehe ich reisen. Erst, wenn die Ärzte mir sagen: Jetzt können wir nichts mehr machen, dann setze ich mich mit dem Sterben auseinander.»

«Ich freue mich, wieder Salami zu essen»

Es ist Ende November. Tag 169. Wir sitzen im Esszimmer von Marco und Gaby. Bald hat Marco seinen PET-CT. Mit einem PET-CT (Positronen-Emissions-Tomographie kombiniert mit einer Computer-Tomographie) können Tumore und Entzündungen erfasst werden. Beim Termin schauen die Ärzte, ob der Tumor noch da ist, kleiner wurde oder ganz weg ist. «Je näher der Termin kommt, umso gespannter bin ich. Ändern können wir eh nichts», so Marco. «Wenn beim PET-CT rauskommt, dass der Tumor gewachsen ist, würde ich es nicht verstehen. Ich habe so ein gutes Gefühl und keine Schmerzen.»

Seit Ende Mai 2021 darf Marco keine Leute treffen – und nicht nur Marco, auch seine Familie muss sich stark einschränken. Selbst die Pflanzen sind aus der Wohnung verbannt worden. Alles, wo Schimmel oder ein Pilz drauf wachsen könnte, musste weg. Er verrät: «Ich freue mich am meisten, wieder Salami essen zu können.»

Nach sechs langen Monaten stellt sich heraus, ob die neuen Stammzellen etwas gegen den Tumor ausrichten konnten. «Die Ärzte sagen: Gesund ist man erst, wenn man in den nächsten fünf Jahren keinen Rückfall erleidet.» Obwohl Marco vielleicht schon in ein paar Monaten wieder zur Arbeit gehen kann, bleibt er Patient. Zumindest bis Ende 2026.

Tag 182. Der Anruf kommt. Er ist weg.

Quelle: Krisztina Scherrer/FM1Today

veröffentlicht: 16. Februar 2022 08:00
aktualisiert: 16. Februar 2022 08:05
Quelle: FM1Today

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